V. Fracheboud: L’indroduction de l’assurance invalidité en Suisse

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Titel
L’indroduction de l’assurance invalidité en Suisse (1944–1960). Tensions au coeur de l’Etat social


Autor(en)
Fracheboud, Virginie
Erschienen
Laausanne 2015: Antipodes
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alan Canonica

Die Invalidenversicherung (IV) gehört in der Schweiz zu jenen Zweigen der sozialen Sicherung, die historisch bis anhin kaum erforscht wurden. Die IV steht, nicht nur in dieser Hinsicht, im Schatten ihrer «grossen Schwester», der Altersund Hinterlassenenversicherung (AHV). Erst die gegenwärtige finanzielle Krise der IV und die zeitlich dichtgedrängten Gesetzesrevisionen seit der Jahrtausendwende haben auch das Interesse an den historischen Grundlagen dieses Sozialwerks verstärkt. Nebst einigen publizierten Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren ist nun mit dem vorliegenden Buch von Virginie Fracheboud erstmals auch eine Monografie zur Thematik erschienen. Das Werk deckt den Zeitraum von 1944 bis 1960 ab. Die Autorin setzt bei den politischen Vorarbeiten zur AHV ein, bei denen auf eine gleichzeitige Einführung der IV zusammen mit der AHV verzichtet wurde, und führt die Leserinnen und Leser dann mit ihren Ausführungen bis zum Jahr 1960, als das IV-Gesetz in Kraft trat. Frachebouds Anliegen lautet, die Vorgeschichte und Einführung der IV – unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Kontexts der 1950er Jahre – in die dynamische Entwicklung der sozialen Sicherheit in der Schweiz zu jener Zeit einzubetten. Sie behandelt primär das Zusammenspiel wirtschaftlicher und politischer Fragen. Aus dieser Perspektive lässt sich auch das starke Interesse der Autorin für die Arbeitgeberverbände als Akteure im Entstehungsprozess der IV erklären. Das Werk beruht auf einer breiten Basis an Primärquellen, die in verschiedenen Archiven konsultiert wurden. Fracheboud präsentiert eine historische Darstellung der Ereignisse als klassische Institutionen- bzw. Politikgeschichte, was zweckdienlich, nicht aber sonderlich originell wirkt.

Im ersten Teil ihrer Arbeit diskutiert Fracheboud den langen Weg der IV bis zum politischen Durchbruch in der Mitte der 1950er Jahre. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen bis in das späte 19. Jahrhundert zurück. 1925 räumte die Bevölkerung per Volksabstimmung dem Bund das Gesetzgebungsrecht für die AHV und zu einem späteren Zeitpunkt für die IV ein. Die Autorin erklärt den Umstand, dass bei der Einführung der AHV in den 1940er Jahren auf die gleichzeitige Vorbereitung der IV verzichtet wurde, damit, dass zum einen in der unmittelbaren Nachkriegszeit die führenden politischen Kreise eine strikt liberale Politik verfolgten, die nur begrenzten Raum für einen weitreichenden Ausbau der sozialen Sicherung zuliess, und zum anderen wurde – analog zum verabschiedeten Verfassungsartikel von 1925 – der IV gegenüber der AHV und anderen Sozialversicherungszweigen eine sekundäre Position zugeteilt (S. 41). Auf Bundesebene waren es dann in erster Linie linkspolitische Kräfte, die im Anschluss an die Einführung der AHV 1948 auch die Implementierung der IV forderten. Fracheboud zeigt nun auf, wie (rechts-)bürgerliche Kreise zu Beginn der 1950er Jahre ein eigenes IV-Modell entwarfen, das auf eine Minimallösung mit geringen Kosten abzielte. Die IV solle der AHV angegliedert werden, da Invalidität eine Art von vorgezogener Erwerbsunfähigkeit im Alter darstelle. Damit gab man linken Bestrebungen Gegensteuer, die die IV eher im Bereich der Krankenversicherung situierten, was von bürgerlicher Seite als teure Erweiterung eines allgemeinen Gesundheitssystems (z.B. durch die Finanzierung von Pflegeleistungen und medizinischer Versorgung) bekämpft wurde. Zudem strebte die bürgerliche Politik ein Abbremsen des – in der Hochkonjunktur – unerwartet stark anwachsenden AHV-Fonds an, indem sie Teile des AHV-Kapitals für die Unterstützung im Invaliditätsfall aufwenden wollte. Ein solches Vorgehen sollte zusätzlich die Wahrscheinlichkeit mindern, dass aufgrund der glänzenden finanziellen Lage der AHV Forderungen nach besseren AHV-Rentenleistungen gestellt würden. Schliesslich sollte auch der Kreis der Leistungsempfängerinnen und -empfänger sehr eng gehalten werden und nur Vollinvalide, nur körperlich Behinderte und nur erwachsene Behinderte einschliessen (S. 52–54). Alternativ wurde auch die Einsetzung der Überschüsse des AHV-Fonds für die Erwerbsersatzordnung der Militärdienstleistenden (EO) vorgeschlagen. Schliesslich wollte man von bürgerlicher Seite auch nicht allzu grossen Vorschub für die Einführung der IV leisten.

Bis in die Mitte der 1950er Jahre setzte auch der Bundesrat seine Prioritäten nicht bei der IV, sondern bei der Einführung oder Revision anderer Sozialversicherungszweige und führte zudem die ungeklärte Finanzierungsfrage der IV als Gegenargument zu deren Implementierung an. Während 1954 die Partei der Arbeit und kurz darauf die Sozialdemokratische Partei jeweils Volksinitiativen zur Einführung der IV lancierten, um Druck auf den Bundesrat auszuüben und den Gesetzgebungsprozess zu beschleunigen, machten sich die Bürgerlichen nun im Parlament für eine «Kombinationslösung» stark: eine Kombination aus Versicherungs- und Fürsorgeelementen sowie eine Kombination aus beruflicher Eingliederung und Renten ausschliesslich für Erwerbsunfähige (S. 78f.). Die Berücksichtigung bestehender Institutionen, wie die private Invalidenhilfe für die berufliche Eingliederung, sollte eine allzu staatlich ausgestaltete Konstruktion verhindern und das angestrebte Ziel einer kostengünstigen, liberal geprägten Invalidenhilfe als Minimallösung anstelle einer staatlich dominierten Invalidenversicherung ermöglichen.

Beim Bundesrat erfolgte Mitte der 1950er Jahre – wohl auch unter dem Druck der Volksinitiativen – ein Umschwenken, wobei nun die IV an die Spitze der sozialpolitischen Agenda rückte. Dabei machte sich das Bundesamt für Sozialversicherungen für die «Kombinationslösung» stark, die die berufliche Eingliederung («Eingliederung vor Rente») an erster Stelle setzte. Im zweiten Teil des Werks gelingt es Fracheboud das komplizierte Zusammenspiel finanzpolitischer Fragen und die damit verbundene Verschränkung der Sozialversicherungen AHV, EO und IV bei der Bildung einer gesetzlichen Lösung für die Invalidenversicherung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auf eindrückliche Weise darzustellen. Besonders hervorzuheben ist dabei der Einfluss der Arbeitgeberverbände im Entstehungsprozess des Sozialwerks, der von der Autorin anschaulich beschrieben wird.

Die schliesslich ausgearbeitete Gesetzesvorlage, die als Minimallösung und Kompromiss bezeichnet werden kann, sah nun ausschliesslich individuelle Eingliederungsmassnahmen vor, die der Arbeitsintegration dienten, während auf Massnahmen zur sozialen Integration verzichtet wurde. Gleichzeitig wurde den betroffenen Personen, die keine Ansprüche bei der Krankenversicherung geltend machen und nicht in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden konnten, auch die Finanzierung medizinischer und pharmazeutischer Pflege verwehrt. Zudem wurden die IV-Renten denjenigen der AHV angeglichen. Sie galten als «Basisrenten», die ohne weitere Einkünfte, z.B. aus Pensionskassen, kaum für ein existenzsicherndes Einkommen ausreichten. In ihren Grundzügen stützte sich die konzipierte IV auf ein liberales Modell, das auf die Eigenverantwortung der Betroffenen setzte und den Arbeitgebern keinerlei Verpflichtungen im Zusammenhang mit der beruflichen Eingliederung Behinderter auferlegte. Die Gesetzesvorlage erzeugte im gesamten politischen Spektrum einen Konsens. Bürgerliche und rechtspolitische Kreise waren mit der kostengünstigen Lösung zufrieden. Politisch linke Kreise hätten sich eine weitreichendere IV gewünscht. Letztere wollten aber die Einführung des Sozialwerks nicht weiter hinauszögern und das Risiko eines Referendums mit anschliessender Volksabstimmung aufgrund einer zu kostenintensiven IV vermeiden.

Das lesenswerte Buch gewährt einen wichtigen Einblick in die Zusammenhänge der Politik der sozialen Sicherheit und der Finanzpolitik im Allgemeinen in der Entstehungszeit der IV. Die Fokussierung auf finanzpolitische Fragen ist auf der einen Seite sehr erhellend, engt auf der anderen Seite – wie Fracheboud in ihrer Schlussbetrachtung auch selbst einräumt (S. 185f.) – den Blick allerdings zu sehr ein, da wichtige Aspekte für die Einführung der IV, wie der «Eingliederungsboom » (Urs Germann) der 1950er Jahre in der Schweiz, in diesem Werk aufgrund der verfolgten Fragestellung nur ansatzweise und oberflächlich berücksichtigt werden konnten.

Zitierweise:
Alan Canonica: Rezension zu: Virginie Fracheboud, L’indroduction de l’assurance invalidité en Suisse (1944–1960). Tensions au coeur de l’Etat social, Lausanne: Antipodes, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 181-183.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 181-183.

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