M. Gallati: Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920–1950

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Titel
Entmündigt. Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920 – 1950


Autor(en)
Gallati, Mischa
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nadja Ramsauer

«Was verstehen Sie unter liederlichem Lebenswandel? Ich bin kein Trinker», schreibt Arthur Albiker (anonymisiert) 1937 an die Direktion der sozialen Fürsorge Bern, um sich gegen seine Entmündigung zu wehren. Seine Stellungnahme lässt wie durch ein Brennglas auf Mischa Gallatis Zugang zu Vormundschaften in der Stadt Bern im Zeitraum 1920 bis 1950 blicken. Gallati versteht in einem ersten Kapitel in Anlehnung an Michel Foucault Vormundschaft als Machtverhältnis, als ein «Gewebe zwischen verschiedenen, mit höchst unterschiedlichen Ressourcen und Handlungsspielräumen ausgestatteten Akteuren». Er nimmt nach Pierre Bourdieu eine praxeologische Perspektive ein und fragt danach, wie sich Akteure im Machtbeziehungsgeflecht mit ihrem Handeln auf vorgängige Handlungen bezogen und welche unterschiedlichen Repertoires ihnen dabei zur Verfügung standen. Arthur Albiker schrieb Briefe, hatte aber keine Kontrolle darüber, wie seine Aussagen ausgelegt wurden. Die Vormundschaftskommission der Stadt Bern referierte in ihren Entscheiden Aktenwissen, das ihr vonseiten anderer Behörden oder Experten zugetragen wurde. Gallati zeigt auf, wie in diesem Setting die Akte im Sinne Bruno Latours zu einem Akteur wird: Die Akte ist stets kooperationsbereit gegenüber denjenigen, die Einsicht haben. In ihr werden, wie Gallati im vierten Kapitel zu den «inneren Mechanismen der Vormundschaft» zeigt, stigmatisierende Zuschreibungen geformt und gefestigt. Hinterfragende Positionen der Betroffenen fliessen nicht ein oder verstärken negative Attribuierungen. So wird eine stringent vorgetragene Argumentation als Arroganz ausgelegt respektive in einem Zirkelschluss als Beleg für die vermeintliche Richtigkeit der Massnahme angeführt.

Vormundschaftsbehörden greifen mit Entmündigungen nach dem Zivilgesetzbuch von 1912 massiv in individuelle Freiheitsrechte ein. Gallati beschreibt diesen Akt in Anlehnung an Erving Goffman als «Statusdegradierungszeremonie», der im weiteren Fallverlauf «Territorialisierungsbewegungen» nach sich zog. Die Behörden verfügten über einschlägige Informationen, bestimmten direktiv die Gesprächsarrangements und verletzten im dramatischsten Akt des territorialen Zugriffs körperliche Integrität mittels Sterilisationen. Entmündigte Personen wiederum handelten widerständig, markierten Dissens, verschwanden – etwa in eine andere Gemeinde und machten sich damit ein neues räumliches Territorium zu eigen – oder versuchten, Argumente der Behörde antizipierend zu übernehmen, um sie sodann strategisch einzusetzen. Gerade auf solche «mimetische Handlungen» reagierte die Behörde oftmals scharf, weil diese, so Gallati in Referenz auf Judith Butler und Homi K. Bhabha, die diskursive Ordnung gefährdeten.

Anhand einer genealogischen Herleitung des rechtshistorischen Diskurses und einer Auswertung statistischer Daten aus Jahresberichten der Berner Behörden zeichnet Gallati im zweiten und dritten Kapitel nach, wie Vormundschaften sich im 20. Jahrhundert von einem das Vermögen schützenden Instrument zu einer «Einübungsagentur» für Personen wandelten, die dem bürgerlichen Tugendkanon nicht nachleben konnten oder wollten. Die Kinder- und Jugendfürsorge war in der Stadt Bern nach 1900 Motor für die Professionalisierung des Vormundschaftswesens, das sich zusehends und mit zahlenmässigem Höchststand in den 1930 er- und 1950 er-Jahren auf die Entmündigung Erwachsener erstreckte. Sich überlagernde professionelle und milizartig organisierte Strukturen führten ebenso zu grossen Handlungsspielräumen seitens der Behördenvertreter wie – aus heutiger Sicht problematische – personelle Besetzungen. So war etwa Otto Steiger als Vorsteher der Fürsorgedirektion und Präsident der Vormundschaftskommission zugleich ausführend und beaufsichtigend tätig. Es gehörte zu einem für die Berner Behörden typischen Ausloten von Spielräumen, betroffene Personen derart unter Druck zu setzen, dass sie der Entmündigung vermeintlich freiwillig zustimmten.

Vier Fallgeschichten, in denen Gallati Biografien verdichtet, sind zwischen die vier Hauptkapitel der Arbeit gestellt. Ziel ist es, in einer sich des analytischen Kommentars enthaltenden «Nacherzählung den entmündigten Menschen ein Stück jener Handlungsmächtigkeit zurückzugeben, die ihnen vonseiten der Behörden nur zu oft vorenthalten wurde». Die vier Geschichten verdeutlichen die Stärke der Arbeit, indem es Gallati in seiner mit zahlreichen theoretischen Bezügen unterlegten Analyse von Vormundschaftspraktiken an anderer Stelle im Buch gelingt, den performativen Charakter von Akten und Zuschreibungen sowie das Handlungsgeflecht von Behördenvertretern und entmündigten Menschen aufzuzeigen. Da die Dissertation aus einem NFP-Projekt zu Eugenik und Fürsorge entstanden ist, beinhaltet sein Quellenmaterial vor allem Akten zu Fällen, in denen dezidiert eugenische Argumentationen und biopolitische Intentionen zum Tragen kamen, mit denen sich äusserst einschneidende Massnahmen wie Anstaltsinternierungen, Sterilisationen und Heiratsverbote verbanden. Im Sinne einer weiterführenden Fragestellung wäre es interessant, Entmündigungen oder Beistandschaften in die Analyse einzubeziehen, in denen andere als eugenisch motivierte Begründungen zu einer Massnahme geführt hatten. Damit verändert sich allenfalls das Spektrum der Zuschreibungen und Handlungsspielräume, auch über den Zeitverlauf. In der Stadt Bern sinken die Zahlen der Entmündigungen von zumeist jungen Erwachsenen seit den 1990er-Jahren gegen Null, währenddem Beistandschaften für ältere Menschen stark zunehmen; ein Thema, das von der historischen Forschung noch kaum beachtet ist. Die Dissertation von Mischa Gallati bietet einen sehr guten Ausgangspunkt für Studien zu Entmündigungen von Erwachsenen in anderen Regionen der Schweiz und zusammen mit Tanja Rietmanns 2013 erschienenen Arbeit zu administrativen Versorgungen eine Gesamtschau zum Kanton Bern mit seinen spezifischen personellen, institutionellen und diskursiven Verflechtungen im 20. Jahrhundert.

Zitierweise:
Nadja Ramsauer: Rezension zu: Gallati, Mischa: Entmündigt: Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920 – 1950. Zürich: Chronos Verlag 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 119-121.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 119-121.

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