E. Walter-Busch: Burckhardt und Nietzsche

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Titel
Burckhardt und Nietzsche im Revolutionszeitalter.


Autor(en)
Walter-Busch, Emil
Erschienen
München 2012: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Barbara von Reibnitz, Seminar für Alte Geschichte, Universität Basel

Der Sozialwissenschaftler Emil Walter-Busch hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Werke der beiden «bedeutenden Querdenker des 19. Jahrhunderts» aus ihren zeitgeschichtlichen Kontexten und lebensgeschichtlichen Entstehungszusammenhängen heraus vergleichend zu lesen und auszulegen. Seine Untersuchung schliesst an eine Reihe bereits vorliegender Arbeiten an und will sich zumal von der polarisierenden und wertenden Gegenüberstellung abgrenzen, die die einflussreichen Studien von Edgar Salin und Alfred von Martin entwickelt hatten, beide seinerzeit mit kritischem Bezug auf die nationalsozialistische Aneignung Nietzsches.

Seinen aus den Quellen gearbeiteten «Leitfaden» durch die «stimulierende Gedankenwelt» der beiden Gelehrten (S. 7) hat Walter-Busch nicht mit dem Anspruch des Spezialisten verfasst, sondern sich ausdrücklich die Freiheit genommen, die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Sekundärliteratur nur als «Nebenlektüre» zu betreiben (S. 22). Ergebnis dieser Priorisierung ist eine sehr persönlich reflektierende und durch eine Fülle gut ausgewählter Zitate beeindruckende Darstellung, die trotz ihrer Distanz zur neueren Forschung sowohl für Spezialisten wie Nichtspezialisten gewinnbringend zu lesen ist. Sie ist, soweit möglich, auf der Basis der neuen kritischen Ausgaben erarbeitet. Auf die wichtigste Literatur ist in den Anmerkungen verwiesen.

Das Buch ist dreiteilig angelegt: ein erster Teil widmet sich als «einführender Überblick» den historischen und biographischen Kontexten. Sehr knapp wird die Stadtentwicklung von «Burckhardts Basel» skizziert. Die Auswertung einer synoptisch angelegten Übersicht wichtiger Lebenslaufdaten Burckhardts und Nietzsches zeigt Übereinstimmungen (Pfarrhäusliches Herkunftsmilieu, Abbruch des Theologiestudiums, künstlerische Begabung, früher Verlust der Mutter / des Vaters, Junggesellenexistenz) und Unterschiede (Alter und politische Prägung; Gesundheit, Öffentlichkeitsbezug, stilistische und inhaltliche Ausrichtung als Schriftsteller). Ein eigenes Kapitel charakterisiert «Burckhardts Schweiz und Nietzsches Deutschland im langen 19. Jahrhundert», wie man das Zeitalter von 1789–1914 resp. 1917, das sich in Reaktion auf die Französische Revolution entwickelte, zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Eine dichte, gekonnt akzentuierte vergleichende Darstellung der unterschiedlichen politischen Entwicklung beider Länder vor und nach 1848.

Der zweite Teil behandelt ausschliesslich Burckhardt: ein Durchgang durch seine aus der Sicht des Verfassers wichtigsten Werke, verbunden mit der für das Buch leitenden Frage nach ihrem «Sitz im Leben». Er beginnt mit einem Blick auf Burckhardts frühe journalistische Arbeiten, die in der Burckhardt-Forschung bislang noch kaum behandelt wurden. Sie sind seit 2008 in Band 9 der Kritischen Gesamtausgabe erstmals vollständig, auf ihre Zuschreibung überprüft und kommentiert, zugänglich. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die hoch emotionale Rhetorik, in der Burckhardt in seinen 1843 bis 1848 als Auslandskorrespondentfür die «Kölnische Zeitung» und die «Basler Zeitung» verfassten politischen Reportagen die drohende «Zersetzung der Schweiz durch die Demagogie» der «Radikalen» perhorresziert hat, eine Rhetorik, die getragen war von antidemokratischem Ressentiment, von dem er sich nie gelöst hat. In einem konzentrierten Querschnitt illustriert Walter-Busch Burckhardts kulturhistorische Methode als das seine allgemein-, kunst- und kulturhistorischen Arbeiten verbindende Element. Eine gekonnte Zusammenstellung und Exegese wichtiger Textstellen und Briefzeugnisse zeichnet die politische Diagnostik Burckhardts nach. Hier hätte man allerdings eine intensivere Auswertung der in der Kritischen Ausgabe neu vorgelegten Vorlesung Burckhardts über die «Geschichte des Revolutionszeitalters» (JBW 28) erwarten dürfen, die zu den meistbesuchten Lehrveranstaltungen des Historikers zählte und von zentraler Bedeutung für die Profilierung seines Geschichtsbildes war.

Der dritte Teil des Buches bringt Burckhardt und Nietzsche miteinander ins Gespräch. Walter-Busch geht zunächst den Ansätzen zu Nietzsches «Philosophie der Umwertung aller Werte» im Frühwerk nach, beleuchet die Ablösung des «unzeitgemässen » Nietzsches von Richard Wagner, dem Burckhardt immer fremd, ja ablehnend gegenüberstand und widmet sich dann dem näheren Verhältnis der beiden Intellektuellen. An den Reaktionen Burckhardts auf Nietzsches Werke arbeitet er die wesentliche Distanz heraus, die zwischen ihnen bestand. Berührungspunkte und Übereinstimmungen sieht er vor allem «in ihren Ansichten […] zur griechischen Antike oder zu politischen und kulturellen Defiziten der Gegenwart» (S. 161). Hier hätte ein eingehenderer Vergleich allerdings auch aufschlussreiche Differenzen herausstellen können. Dem «skeptischen Agnostiker» Burckhardt, so Walter-Busch, waren «das propagandistische Feuer» und der «religiöse Akzent des Apostels» in Nietzsches Denken «die befremdlichsten Züge» (S. 167). Er schätzte vor allem Nietzsches Werke der «freigeistigen Schaffensphase» von «Menschliches, Allzumenschliches» bis zur «Fröhlichen Wissenschaft», nicht zuletzt auch aufgrund ihrer aphoristischen Form (S. 169). Das mit dem «Zarathustra » beginnende Spätwerk hingegen mit dem Projekt der sich immoralistisch verschärfenden Umwertung aller Werte lehnte er ab, eine Ablehnung, die Nietzsche, der bis zuletzt von der geistigen Nähe zu seinem «Lehrer» Burckhardt überzeugt war, nicht zur Kenntnis nehmen wollte (S. 161). Ein eigenes (zu ausführliches, gleichwohl erhellendes) Kapitel widmet sich der Bezugnahme auf Burckhardt und Nietzsche im Renaissancekult der Jahrhundertwende. Die Frage nach Konvergenz und Distanz im Denken seiner beiden Protagonisten nimmt Walter- Busch schliesslich mit Blick auf die in der jüngeren Forschung (Mattioli, Flaig, Regent, Ruehl u. A.) geführte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Burckhardts nochmals auf. Er plädiert dafür, Burckhardts Ressentiment, das sich im Unterschied zu Nietzsches im Spätwerk vollzogener «philosemitischer», bzw. «anti-antisemitischer Wende» (eine in der Nietzsche-Forschung keineswegs unbestrittene Interpretation) nicht abgeschwächt, sondern radikalisiert habe, ohne Beschönigung zur Kenntnis zu nehmen, sich davon jedoch nicht den Blick auf das Gesamtwerk verstellen zu lassen (S. 223).

Werkbiographisch anregend und informativ, kann Walter-Buschs gut zu lesende Überblicksdarstellung durch ihre personenbezogene Perspektive und die eingangs angeführte Priorisierung der Primärtexte den eigenen Anspruch nur mit Abstrichen erfüllen: die sozial- und zeitgeschichtliche, mehr noch die intellektuellengeschichtliche Kontextualisierung bleibt hinter dem, was die neuere Forschung erarbeitet hat, notwendig zurück.

Zitierweise:
Barbara von Reibnitz: Rezension zu: Emil Walter-Busch, Burckhardt und Nietzsche im Revolutionszeitalter, München: Wilhelm Fink, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 3, 2014, S. 508-510.