G. Kreis (Hrsg.): Die Geschichte der Schweiz

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Titel
Die Geschichte der Schweiz.


Herausgeber
Kreis, Georg
Erschienen
Basel 2014: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
645 S.
Preis
€ 89,60
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Maissen, Deutsches Historisches Institut Paris (DHIP)

2014 ist für die Geschichte der Schweiz ein Moment der Ernte. Das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) liegt in 13 Bänden und auf rund 12.000 Seiten dreisprachig gedruckt vor und ist auch im Internet abrufbar.1 Dieser neu etablierte Forschungsstand, aber auch die Nachfrage in einer durch Christoph Blochers SVP stark geprägten Erinnerungspolitik regte in den letzten Jahren zu verschiedenen neuen Nationalgeschichten an. Ein Autorenkollektiv unter der Leitung von Georg Kreis legt nun im Schwabe Verlag eine umfassende Überblicksdarstellung vor: „Die Geschichte der Schweiz“. Sie will an der „Geschichte der Schweiz und der Schweizer“2 gemessen werden, die 1983 erschien und die nationale Vergangenheit nach dem Muster der Annales darstellte, mit einem Fokus auf Demographie, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, die Politik programmatisch zuletzt. Wie anderswo auch, erwies sich für eine solche „histoire totale“ der regionale Rahmen letztlich als geeigneter denn der nationale, und so wandte sich der historiographische Eifer der letzten drei Jahrzehnte vor allem den Kantonsgeschichten zu, die in großer Zahl von Autorenkollektiven verfasst wurden, mit viel Aufwand erarbeitet und repräsentativ produziert.

Ein ähnliches Konzept oder Programm fehlt der neuen „Geschichte der Schweiz“. Die Autorinnen und Autoren konnten recht frei ihre eigenen und gegenüber 1983 zum Teil neuen Schwerpunkte setzen. Während seit dem 19. Jahrhundert die Universitäten Zürich und Bern die meist reformierten Verfasser von Nationalgeschichten stellten, ist die Mischung mit fünf französischsprachigen, einem italienischsprachigen und einem amerikanischen Autoren für die elf Hauptkapitel weiter gefasst. Fünf der Hauptkapitel sind von Frauen verfasst, während die vergleichbaren Vorgängerwerke reine „Männergeschichten“ waren. Genderüberlegungen wie diejenigen Randolph Heads über die frühneuzeitliche „Männerrepublik“ spielen im anzuzeigenden Werk je nach Autor eine Rolle, Frauengeschichte abgesehen von der Stimmrechtsproblematik als Fokus jedoch nur in Regina Weckers Beitrag. Der Versuch wäre interessant gewesen, solche oder andere Themen etwas systematischer als wiederkehrende Motive durch die Zeiten zu verfolgen. Stattdessen wird die Schweiz im 14./15. Jahrhundert als Frömmigkeitsort und 1798 bis 1848 als Nationenbildungsprojekt präsentiert, dann bis 1914 als verhindertes Frauenintegrationsprojekt, woraus bis 1945 ein Internationalisierungsprojekt wird – lauter Schwerpunkte, die den jeweiligen Autor verraten. Das ist legitim, doch die einzelnen Themen sollten auch in anderen Kapiteln vorbereitet oder aufgegriffen werden, wofür ein intensivierter Austausch nötig gewesen wäre.
Die vom Herausgeber eingeräumte „Freiheit des Erzählens“ erlaubte es den Autorinnen und Autoren, die Themen ihrer Epochenkapitel weitgehend selbst zu definieren. Diese lassen sich entsprechend gut als Einheit lesen. Etwas schwieriger ist die Lektüre als durchgehende Erzählung, wenn etwa der Auszug der Helvetier und ihre Niederlage bei Bibracte, die Ereignisse um die Schlacht bei Morgarten oder die italienischen Kriege mit der Niederlage bei Marignano jeweils am Ende eines Kapitels und am Anfang des folgenden behandelt werden. Mit einer gewissen Überraschung, jedenfalls im Vergleich mit der von der „histoire totale“ inspirierten Vorgängergeschichte, kann man feststellen, mit welcher Selbstverständlichkeit die politische Ereignisgeschichte fast durchgehend als roter Faden gewählt wird; Ausnahmen sind das 18. Jahrhundert (André Holenstein) und die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts (Regina Wecker). Allerdings ist sie für die Geschichte eines Staates auch angemessen, in dem soziale oder wirtschaftliche Angleichungen der erheblichen regionalen Differenzen erst seit dem späteren 19. Jahrhundert einsetzten.

Urz Leuzinger behandelt die Ur- und Frühgeschichte, Regula Frei-Stolba und Daniel Paunier die römische Epoche. Dieser weite Blick zurück ist legitim bei einer Perspektive, die auf ein Territorium und nicht auf ein „Volk“ gerichtet ist. Trotzdem überraschen Kapiteltitel wie „Jungsteinzeit – erste Bauern in der Schweiz“ oder die Zeitleiste im Anhang, die vor 100.000 Jahren einsetzt, mit den auch sprachlich fragwürdigen ersten „Begehungen durch den Homo erectus in der Schweiz“. Eine moderne Nationalgeschichte sollte den Teleologieverdacht nicht so schnell aufkommen lassen. Tatsächlich ist die Schweiz erst ein Produkt des Spätmittelalters, was gemeinhin, aber kaum zutreffend mit einem Bündnis von 1291 zwischen Uri, Schwyz und Nidwalden als Ausgangspunkt begründet wird. Es war eine reizvolle Idee, diese nationalgeschichtlich zentralen Erörterungen der Innerschweiz um 1300 zwei Westschweizern zu überlassen. Jean-Daniel Morerod und Justin Favrod reiben sich bei der Beschreibung des Hochmittelaltes an der neueren Forschung von Roger Sablonier3, während ihm Susanna Burghartz in ihrem Kapitel zum Spätmittelalter folgt. Man kann sich fragen, ob Morerod und Favrod die damalige Bedeutung des Gotthards und der dort liegenden Kantone nicht überschätzen und damit die angebliche „Strukturierung des zukünftigen schweizerischen Territoriums“ (S. 113) um 1300 nicht sehr früh einsetzt. Das Problem der frühen Bündnisse ist wohl weniger die Echtheit der überlieferten Dokumente als der ihnen nationalgeschichtlich beigemessene Charakter: Tatsächlich hatten nicht sie, sondern die Reichsprivilegien für die einzelnen „Orte“ (die heutigen Kantone) staatsbegründenden Charakter. Eine exklusive Eidgenossenschaft mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl, so Burghartz an die Forschungen Bernhard Stettlers4 anschließend, entstand erst nach dem 1450 beendeten Alten Zürichkrieg, der die widerwillige Reichsstadt Zürich in das von Schwyz dominierte Bündnisgeflecht einband. Burghartz illustriert diesen auch mental nicht selbstverständlichen Prozess mit einem Zitat des Zürcher Frühhumanisten Felix Fabri, der als kleiner Junge weinen musste, als er einmal hörte, „dass die Zürcher Schweizer genannt wurden“ (S. 158).

Randolph Head behandelt das 16. Jahrhundert naheliegenderweise mit einem Fokus auf der konfessionellen Entwicklung, rahmt das aber originellerweise in einen quellennahen Dialog ein, den er die jüngere Forschung gleichsam mit Josias Simler führen lässt, der 1576 mit Regiment gemeiner loblicher Eydgnoschafft die eidgenössische Verfassungsgeschichte begründete. Mit dem 17. Jahrhundert schließt Danièle Tosato-Rigo an, die in ihrem sehr solid erarbeiteten Kapitel den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen und nicht zuletzt dem Bauernkrieg von 1653 den gebührenden Raum lässt. Ebenso breit und kompetent präsentiert André Holenstein das 18. Jahrhundert, der wie erwähnt mit der demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Dynamik einsetzt. Das hat auch damit zu tun, dass das Ancien Régime zumindest auf gesamteidgenössischer Ebene politisch statisch erscheint, wogegen in den Kantonen, nicht zuletzt wegen des Aufstiegs neuer unternehmerischer Schichten, politische Konflikte (sogenannte „Händel“) schnell zunahmen.
Während Holenstein den Umbruch von 1798 und die Helvetische Republik damit gleichsam als Ergebnis eskalierender Spannungen präsentiert, stellen sie bei Irène Herrmann den Ausgangspunkt eines revolutionären halben Jahrhunderts dar, das zum Bundesstaat von 1848 führte. Der Aufbau, der zuerst die außenpolitische Entwicklung ins Auge fasst und dann die politische Neuordnung im Inneren, trägt dazu bei, dass Napoleon und seine Mediationsverfassung von 1803 nicht den gebührenden Stellenwert erhalten: Immerhin entstand damals dank sechs neuen Kantonen im Kern die Binnenstruktur der heutigen Schweiz, die 1814 durch die Aufnahme weiterer drei Kantone während des Wiener Kongresses vervollständigt wurde. Das hätte zumindest eine gute Karte verdient, wie sie der ephemeren helvetischen Republik vorbehalten blieb. Deutlich wird danach in einer langen Reihe von Konflikten die Herausbildung gegensätzlicher Lager, die Herrmann als „Nation“ und „Tradition“ bezeichnet. Letztere hielt vor allem an der Rolle von Religion und Kirche sowie an der kantonalen Souveränität fest. Den neuen Staat präsentiert Regina Wecker folgerichtig auch als neue, nicht zuletzt nationale Gesellschaft, wie sie durch die Industrialisierung und ihre Folgen entstand. Dabei standen sich die ihrerseits facettenreiche freisinnige und die konservative Vision der Schweiz gegenüber, die sich aber um 1900 zur Abwehr der Arbeiterbewegung annäherten. Wenig Licht fällt auf die Entwicklungen in den sehr föderalistischen französischsprachigen Kantonen oder in der italienischen Schweiz.

Dieses Spannungsverhältnis entgeht dem italienischbündnerischen Historiker Sacha Zala nicht, zumal es im Ersten Weltkrieg zentral war. Eine Reaktion auf die Feindschaften zwischen den Landesteilen waren gerade die patriotischen Bemühungen der Bündner, über eigene Vereine den Minderheiten einen angemessenen Platz in der Nation zu garantieren. Das war ein früher Beitrag zum nationalen Zusammenschluss, der gegenüber Faschismen und Bolschewismus in den dreißiger Jahren die Fronten zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse überwand, die im Landesstreik von 1918 nachhaltige Wunden geschlagen hatten. Zala bezieht in seinem Kapitel die internationalen Entwicklungen stark mit ein, während etliche andere Beiträger eher einen helvetischen Tunnelblick beibehalten. Mit dem Titel „Viel Zukunft – erodierende Gemeinsamkeit“ behandelt Georg Kreis abschließend die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Es mag mit der Offenheit dieser Entwicklungen zu tun haben, dass das Kapitel sehr pointilistisch geraten ist, mit eigenwilligen Schwerpunkten („Zooms“), welche die Beschreibungen des Strukturwandels erhellend, aber auch etwas willkürlich unterbrechen. Sprachlich eher salopp und nicht ohne Lücken wird man so in die unmittelbare Aktualität geführt. Für den März 2011 werden „erste Reaktionen“ auf die Reaktorkatastrophe in Fukushima notiert; das neue Regierungsziel des Atomausstiegs ist dagegen nicht erwähnt. Eher unglücklich endet auch die Zeitleiste mit dem Parlamentsbeschluss von 2013, wonach Gripen-Kampflugzeuge gekauft werden sollten – was aber seit der Volksabstimmung von 2014 Makulatur ist.

Wenn man auch an solchen Mängeln der Schlussredaktion mäkeln kann, so ist die Leistung von Georg Kreis als Herausgeber zu würdigen, der die Schwierigkeiten eines solchen Sammelwerks mit 33 Beiträgerinnen und Beiträgern, die ihre Kapitel in vier verschiedenen Sprachen einreichten, bewältigte. Zu den Hauptkapiteln kommen nämlich noch 22, jeweils dreiseitige „Fensterbeiträge“ hinzu, die ein besonderes Thema oder einen methodischen Zugriff vorstellen, in der Regel mit einer Langzeitperspektive. So ordnet Christian Pfister die schweizerische Entwicklung magistral in die „Klima- und Umweltgeschichte“ ein; dasselbe gelingt Elisabeth Joris bei „Familie und Verwandtschaft“, die in ihrer wandelnden sozialen Funktion sehr gut erklärt werden. Auch Luigi Lorenzettis Überblick über die demographische Entwicklung fasst das Wesentliche kurz zusammen. Marc-Antoine Kaesers Blick auf das Nachleben der Helvetier ist nicht auf dem Forschungsstand; bei seinen interessanten Ausführungen über den Kult der Pfahlbauer im 19. Jahrhundert fehlen Hinweise auf Quellen oder Akteure. Silvia Arlettaz zeigt, dass das Wort „Fremde“ in der Vormoderne auf die ortsfremden Nichtbürger bezogen wurde und erst seit 1798 und der Konzeption einer schweizerischen Nationalität „Ausländer“ bezeichnet, die vor allem im 20. Jahrhundert auch eine starke identitätsstiftende Funktion bekamen. Rudolf Jaun versteht die Armeeentwicklung der letzten 200 Jahre als Wechselspiel von Stress und Anpassung an wechselnde Militärdoktrinen. Es können hier nicht alle Fensterbeiträge vorgestellt werden, die aber ausnahmslos von einschlägigen Fachleuten zu ihren Spezialthemen verfasst sind.

Sehr hilfreich sind in diesem Referenzwerk die zahlreichen Karten, Tabellen und Graphiken. Hervorgehobene Zitate schlagen die Brücke zur Quellensprache und gut ausgewählte Illustrationen führen die Leser ebenfalls weiter in den Stoff ein. Insgesamt wird diese neue Geschichte der Schweiz das Vorgängerwerk von 1983 zwar kaum schlichtweg ersetzen, jedoch auf einem aktuellen Stand ergänzen und für die nächsten Jahrzehnte den Standard für ein solches Kollektivwerk setzen.

Anmerkungen:
1 <http://www.hls-dhs-dss.ch> (18.02.2015).
2 Comité pour une nouvelle histoire de la Suisse, Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Basel 1983.
3 Roger Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, Baden 2008.
4 Bernhard Stettler, Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Menziken 2004.

Redaktion
Veröffentlicht am
25.02.2015
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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