F. Metzger: Religion, Geschichte, Nation

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Titel
Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert - kommunikationstheoretische Perspektiven


Autor(en)
Metzger, Franziska
Reihe
Religionsforum 6
Erschienen
Stuttgart 2010: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mario Andreotti

Franziska Metzger (*1974), Lektorin am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Fribourg und seit 2003 Redaktionssekretärin der «Schweizerischen Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte», hat in etwa zehn Jahren eine Vielzahl gediegener Beiträge und Sammelbände über die Geschichte des Schweizer Katholizismus publiziert, darunter 2007 mit ihrem Lehrmeister Urs Altermatt den bedeutenden Band Religion und Nation. Mit Religion, Geschichte, Nation legt sie jetzt ihre Dissertation in Buchform vor.

Ausgehend von der These, dass Geschichtsschreibung eine Konstruktion von Diskursen, also Kommunikation ist, stellt sich die Autorin die Frage, mit welchem theoretischen Rüstzeug heute die Geschichte des Katholizismus – es kann nicht mehr wie vor 1960 als engagierter Katholik in einem katholischen Koordinatensystem geschehen – geschrieben werden soll. Vor diesem Hintergrund behandelt sie das «Dreierverhältnis von (katholischer) Religion, Geschichte und (Schweizer) Nation», das sie in einem zweifachen Sinne sieht: als Verhältnis von Religion und Geschichte und als solches von Religion und Nation. Die beiden eng miteinander verbundenen Verhältnisbestimmungen sind für die katholische Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, ja für das Selbstverständnis des Schweizer Katholizismus überhaupt von entscheidender Bedeutung.

Mit Blick auf das erstere der beiden Verhältnisse zeigt die Autorin auf, dass die ältere katholische Historiographie die Geschichte, die für sie im weitesten Sinne Kirchengeschichte war, als Heilsgeschichte, d.h. als Geschichte der «Endzeit» bis zur Wiederkunft Christi, deutete. Aus dieser heilsgeschichtlichen Geschichtsdeutung – die Autorin spricht von einer «Sakralisierung der Geschichte» – ergab sich «ein auf die Offenbarung bezogener absoluter Wahrheitsbegriff». Dieser «übernatürliche, ahistorische Wahrheitsbegriff» bildete die Grundlage eines mehr oder weniger geschlossenen Systems von Wertvorstellungen, das den Katholiken nicht nur für ihr Privatleben, sondern auch für ihr gesellschaftliches und politisches Handeln Orientierungshilfen, ja Handlungsmaximen anbot. Dabei wurden, anders als in der bürgerlich-liberalen Geschichtsdeutung, die Bereiche der Politik und der Religion nicht getrennt. Ziel dieser ultramontanen Geschichtsdeutung, die für sich absolute Gültigkeit beanspruchte, war letztlich die Unterdrückung des in Kirche und Religion aufkommenden Modernismus. Freilich lässt die Autorin immer wieder durchblicken, dass die vor allem in liberalen Kreisen vielgehörte Meinung, beim Katholizismus, ja bei der Religion überhaupt, handle es sich um eine rein antimodernistische Defensive, zu kurz greift.

Katholische Geschichtsschreibung war, ähnlich übrigens wie die protestantische, konfessionell geprägte Historiographie, die deutlich macht, wie Religion und Nation in der national-liberalen und katholischen Geschichtsdeutung überlagert wurden. Dem Zwingli-Bild auf protestantischer Seite, «das dem Reformator zugeschriebene patriotische und religiöse Eigenschaften aufs engste miteinander verflocht», entsprach auf katholischer Seite u.a. das Bild der beiden «Landesväter» Niklaus von Flüe, der freilich eine überkonfessionelle, nationale Integrationsfigur blieb, und Josef Leu von Ebersol, des Führers der Konservativen in der Sonderbundszeit. Für die katholische Geschichtsschreibung stellte die Verschränkung von Religion und Nation einen zentralen identitätsbildenden Faktor dar. Sie führte, wie die Autorin festhält, «zu einer Konfessionalisierung der Politik ebenso wie zu einer Politisierung der Religion», was dazu beitrug, dass sich die Schweizer Katholiken als unterprivilegierte Minderheit gegen die national-liberale, protestantische Mehrheit seit den 1830er Jahren politisch mobilisierten. Das zeigte sich beispielsweise in ihrer Ablehnung des neuen Bundesstaates von 1848 und im Kulturkampf der 1870er Jahre. Obwohl der Kulturkampf nach 1880 abzuflauen begann, blieb die Konfessionalisierung der Politik, etwa im Parteiensystem, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ja bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) mit seiner ökumenischen Öffnung erhalten.

Franziska Metzger erarbeitet in ihrer Dissertation eine neue, sozialwissenschaftlich und philosophisch untermauerte Geschichtstheorie und nutzt sie für die Analyse der katholischen Geschichtsschreibung in der Schweiz. Ihre Studie, die eine Reihe didaktisch gut aufgearbeiteter Überblicksdarstellungen und eine Unmenge von Sekundärliteratur (die Bibliographie allein umfasst 55 Seiten) enthält, ist ein äusserst kompetent geschriebenes, indessen kein leicht zu lesendes Buch. Wer sich aber die Mühe nimmt, ihren Thesen zum Verhältnis von Religion, Geschichte und Nation zu folgen, erhält eine Fülle faszinierender Informationen über das Selbstverständnis des Schweizer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. Kein Zweifel: Das Buch gehört in die Hand eines jeden Historikers, der sich mit kultur- und religionsgeschichtlichen Fragen befasst.

Zitierweise:
Mario Andreotti: Rezension zu: Franziska Metzger: Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert – kommunikationstheoretische Perspektiven. Stuttgart, Kohlhammer, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 487-488.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 487-488.

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