M. Azaryahu u.a. (Hg.): Erzählweisen des Sagbaren und Unsagbaren

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Titel
Erzählweisen des Sagbaren und Unsagbaren / Between Commemoration and Amnesia. Formen des Holocaust-Gedenkens in schweizerischen und transnationalen Perspektiven / Forms of Holocaust Remembrance in Swiss and Transnational Perspectives


Herausgeber
Azaryahu, Maoz; Gehring, Ulrike; Meyer, Fabienne; Picard, Jacques; Späti, Christina
Reihe
Erinnerungsräume (003)
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis, Europainstitut, Universität Basel

Die von Jacques Picard initiierte, 28 Beiträge umfassende Aufsatzsammlung versteht ihren Blick in die Geschichte nicht als l’art pour l’art, sie befürwortet, betreibt, ja fordert Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden wegen ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. Im Gegenzug zu Maurice Halbwachs’ Einsicht, dass Erinnerungen durch Gegenwartsverhältnisse konditioniert werden, wird ein Erinnern postuliert, das gleichsam umgekehrt die Gegenwart prägt und mit dem Holocaust-Gedenken die nötige Abwehr von Antisemitismus und Genoziden stärkt. Dennoch sind auch für die Lancierung dieser Publikation wiederum Gegenwartsgegebenheiten mindestens motivierend gewesen: das 2018 von der Auslandschweizer Organisation (ASO) angeschobene und vielversprechend gestartete Projekt zu einem nationalen Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus; sodann die Übernahme des in Deutschland entstandenen Konzepts „Stolpersteine“ zur Erinnerung an die Deportierten und Ermordeten der NS-Zeit. Beide Initiativen werden in je eigenen Aufsätzen vorgestellt und diskutiert (S. 477–490 / 465–476).

Zu dieser Konjunktur gehört auch die 2019 erschienene und erfreulich stark beachtete Publikation von Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid über die Schweizer KZ-Häftlinge; eine Thematik, die im Band von den gleichen Autoren nochmals aufgegriffen und von Regula Ludi und Christina Späti mit eigenen Forschungsbeiträgen substanziell ergänzt wird. Hinzu kommt als betrübliche wie unvermeidliche Tatsache, dass die Gedenkaufgabe vor einer neuen Herausforderung steht, weil inzwischen beinahe alle Holocaust-Überlebenden, die bisher Zeugnis ihrer Erfahrung abgelegt haben, nun an ihr Lebensende gekommen sind. Als neue Akteure treten Angehörige der dritten Generation auf, die sich in einer Mischung von Respekt und kritischem Hinterfragen mit den Leben von Großeltern befassen (in diesem Band insbesondere Anna Fersztand und Barbara Bonhage). In der substanziellen Einleitung der Herausgebenden wird Erinnern nicht nur eingefordert, sondern auch seine problematische Seite angesprochen. Es könne auch einen forcierenden Überschuss an Erinnerung geben, der paradoxerweise eine Form des Vergessens zur Folge haben kann. Zudem könnten Denkmäler und Rituale als externe Speicherung der Erinnerung auch zu einer entlastenden Externalisierung führen (S. 22).

In der Einleitung wird festgestellt, dass sich die Schweiz, gemessen an den Entwicklungen im internationalen Umfeld, bei der Aufarbeitung der Zeit der NS-Verbrechen im Rückstand befindet, weil das Land einigermaßen kriegsverschont und unbesetzt geblieben war und weil wegen der politischen Kontinuität nur wenig Anreiz zur Selbsthinterfragung bestand. Hinzu kam, dass der Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip einer offiziellen, bundesstaatlich top down initiierten oder unterstützten Gedenkkultur entgegenstanden. Und irgendwie könnte bei der erklärungsbedürftigen, aber nicht zu rechtfertigenden Zurückhaltung auch die Staatsmaxime der Neutralität im Spiel gewesen sein. Als Beleg für diese Tendenz wird kritisch festgehalten, die schweizerische Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga habe es „noch im Mai 2020“ unterlassen, in ihrer Erklärung zum Kriegsende in Europa vor 75 Jahren ein Zeichen des Gedenkens und der Dankbarkeit zu setzen (S. 19). Später wird aber ausgeführt, dass sich die Autoren der Studie über die Schweizer KZ-Opfer 2019 mit dem Wunsch an die designierte Bundespräsidentin gewandt haben, sie solle ein Zeichen setzen. Das führte immerhin zu einem auch medial beachteten Treffen zwischen der Magistratin und Holocaust-Überlebenden bereits im Januar 2020 (S. 346) – was ein Beispiel dafür ist, wie Engagement „von unten“ zu Positionsbezügen „von oben“ führen können. Dazu passt wiederum die dezidierte Meinung der Herausgebenden, dass das private Gedenken den Staat keineswegs davon entbinde, ebenfalls Stellung zu beziehen.

Es wird nicht explizit gesagt, erschließt sich jedoch aus den Darlegungen: Das Holocaust-Gedenken war und ist primär ein Anliegen der Opfergemeinde und der ihr Nahestehenden, es soll aber sekundär auch ein Anliegen der weiteren Gesellschaft und sogar Teil der Staatspolitiken sein oder werden. Eine wichtige Funktion fällt da den Schulen zu, zumal seit 2003 auch in der Schweiz erwartet wird, dass am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, im Unterricht die NS-Verbrechen thematisiert werden. Beiträge von Sabina Bossert, Erik Petry und Peter Gautschi gehen auf diese Vermittlungsaufgabe ein, sehen in ihren ergänzenden und durchaus aufschlussreichen Beiträgen – über die Rolle der Zeitzeugenchaft, über den Film als Erinnerungsmedium und über Präsenzunterricht und Distance-Learning – aber davon ab, in grundlegender Weise die an Schulen gemachten Erfahrungen zu rekapitulieren.

Die Problematik des ritualisierten Gedenkens wird mehrfach kurz angesprochen, seine negativen, aber auch positiven Seiten hätten jedoch eine vertiefte Auseinandersetzung verdient. Dies zeigt etwa der im Beitrag von Daniel Gerson geschildeter Auftritt des rechtsnationalen Schweizer Magistraten Ueli Maurer 2010 in Yad Vashem, der kurzerhand erklärte, dass ihm „die Worte fehlen“, ins Ehrenbuch aber die Worte „Nie wieder“ eintrug (S. 240). Dem Titel des Bandes entsprechend ist viel vom „Sagbaren“, in den beiden Beiträgen von Ulrike Gehring und Anna Minta aber auch vom „Unsagbaren“ die Rede: Sie vermitteln unter anderem unter Einbezug des malenden Schaffens von Mark Rothko und der wichtiger werdenden Problematik der digitalen Tradierung die zentrale Einsicht, dass es die Möglichkeit – und Notwendigkeit – gibt, Leere als Erzählung von Verlust und als „präsente Abwesenheit“ sichtbar zu machen; Leere nicht als Motiv, sondern als Voraussetzung, um der Toten zu gemahnen, ihnen Namen zu verleihen und an ihre Würde als Menschen zu erinnern (S. 74). Dies wiederum führt zur ebenfalls erörterten Frage, wie man neben dem Gedenken an identifizierbare Opfer, Retter und Täter auch der vielen zwangsläufig Namenlosen gedenken soll.

Der Band vermittelt eine Übersicht zu dem trotz der offiziellen Zurückhaltung in der Schweiz praktizierten Holocaust-Gedenken sowie der Auseinandersetzung mit der Haltung der Schweiz gegenüber den Opfern des Holocausts. Hervorzuheben sind die Dokumentation von Fabienne Meyer der 60 seit Ende der 1940er-Jahre gesetzten Gedenkzeichen, die von Helena Kanyar Becker beigesteuerte Würdigung der „unsichtbaren Helferinnen“, die Rekapitulation des beharrlichen Kampfs um die Rehabilitierung des Flüchtlingshelfers Paul Grüninger in den Beiträgen von Kaspar Surber, Wulff Bickenbach, Erik Petry und Daniel Gerson und die von Marc Perrenoud vorzüglich resümierte Arbeit der in den Jahren 1996–2001 tätigen Unabhängigen Historikerkommission (UEK) „Schweiz-Zweiter Weltkrieg“.

Das Schwergewicht der Beiträge liegt auf schweizerischen Verhältnissen, einige Aufsätze befassen sich aber mit dem Gedenken außerhalb der Schweiz (Israel, Dänemark, Schweden, Ungarn). Besonders lesenswert ist die Einleitung des Essays von Hans-Lukas Kieser zum Gedenken an den Armeniermord und dessen Verhältnis zum Holocaust-Gedenken. Kieser plädiert für ein Gedenken, das dem Raum von „Greater Europe“ gerecht wird, also den Nahen Osten einbezieht. Er gibt damit zu verstehen, dass das Postulat des universellen Gedenkens eigentlich einen entsprechenden, ebenfalls universellen Geschichtsraum umfassen sollte. Und er mahnt, dass Gedenken nicht ausschließlich ethnoreligiös definierten Bevölkerungsgrößen gelten sollte, sondern auch der individuellen Leiderfahrung Rechnung tragen müsse.

Der Band belegt und bringt mit normativen Vorgaben auch die Erwartung zum Ausdruck, dass Erinnerung an Nazi-Opfer an nationalen Grenzen nicht haltmachen soll. Offen bleibt, inwiefern diese Erwartung über den europäisch-amerikanische Doppelkontinent hinausgreifen und auch Afrika und Asien einbeziehen kann, die auf Grund eigener Gegebenheiten auch eigene Gedenkaufgaben haben. Lässt sich am Schluss, ohne die Genozidproblematik zu verwässern und dem Holocaust die Besonderheit zu nehmen, das Gedenken an die Opfer der NS-Zeit zu einem globalen Einstehen für Menschenrechte und zu einem universellen Verurteilen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erweitern?

Redaktion
Veröffentlicht am
08.12.2021
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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