E. Hürlimann u.a.: Das Fräulein vom Bahnhof

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Titel
Das Fräulein vom Bahnhof. Der Verein Freundinnen junger Mädchen in der Schweiz


Autor(en)
Hürlimann, Esther; Largiadèr, Ursina; Schoeck, Luzia
Erschienen
Zürich 2021: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
CHF 34.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Susanne Businger, Institut für Kindheit, Jugend und Familie, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Frauen in Europa zunehmend allein unterwegs und brachen damit mit dem damaligen weiblichen Selbstverständnis. Die Erschließung der Städte durch die Eisenbahn ermöglichte diese Mobilität. Gleichzeitig waren soziale Probleme in den wachsenden Städten sichtbarer, so auch jene, die mit der gewerbsmäßigen Prostitution einhergingen. Junge Frauen, häufig in prekären Arbeitsverhältnissen tätig, liefen Gefahr, in das Gewerbe einzusteigen: Sei es aufgrund der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse oder gezwungen durch Mädchenhändler und Bordellbesitzer.1 1877 schlossen sich auf Initiative der britischen Sozialreformerin Josephine Butler 32 Frauen aus sieben europäischen Ländern zusammen, um gegen Prostitution, Mädchenhandel und Doppelmoral vorzugehen. Insbesondere kritisierte Butler, dass Prostituierte kontrolliert, während bürgerliche Freier in der Regel kaum belangt wurden.2 In diesem internationalen Umfeld entstand 1886 der Schweizerische Verein der Freundinnen Junger Mädchen (FJM). Sein Ziel war, junge Frauen, die als Arbeitssuchende oder Touristinnen in die Schweiz reisten, vor Missbrauch und Prostitution zu schützen (S. 9f.). Die Historikerinnen Esther Hürlimann, Ursina Largiadèr und Luzia Schoeck haben in einem reich bebilderten und anschaulich geschriebenen Buch die Geschichte des Vereins aufgearbeitet.

Eine Stärke des Buches ist, dass die Autorinnen keine streng wissenschaftliche Forschungsarbeit anstrebten, sondern sich am „Narrativ der Dokumente“ (S. 11) orientierten, was den Zugang für die breite Öffentlichkeit erleichtert. Bislang war der Verein FJM in der Geschichtsschreibung als Teil der bürgerlichen Sittlichkeitsbewegung wahrgenommen worden, als einer jener zahlreichen Vereine – beispielsweise für sogenannte „gefährdete“ und „gefallene“ Mädchen – und Heimeinrichtungen, die im 19. Jahrhundert entstanden und eine stark moralisierende und sozialdisziplinierende Ausrichtung hatten.3 Gemäß den Autorinnen greift diese Sichtweise auf die Sozialdisziplinierung zumindest für die FJM aber zu kurz. Als Pionierinnen in einer noch in den Anfängen begriffenen Sozialen Arbeit, aber auch in Anbetracht der Tatsache, dass die FJM die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein junger Frauen im öffentlichen Raum stärkten, wohnte dem Verein auch ein „pionierhafter Ansatz in der Frauenförderung im entstehenden Sozialstaat“ (S. 11) inne.4 Dies erscheint umso bemerkenswerter, als dass vom 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Zuweisung bestimmter, vermeintlich an das biologische Geschlecht gekoppelte Eigenschaften, die den Männern die Öffentlichkeit und den Frauen das Private zuschrieb, gang und gäbe war.

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Im ersten und umfassendsten Teil schildern die Autorinnen die Entstehungsgeschichte, die Ziele und Arbeitsfelder des Vereins und wie sich seine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und den Behörden gestaltete. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Arbeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Von Beginn an war der Verein international ausgerichtet, bezog sich auf eine evangelische Weltanschauung und war doch überkonfessionell in der Umsetzung (S. 21). Eng war die Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Frauenbund der Schweiz (EFS), der sich ebenfalls dem Kampf gegen die Prostitution verschrieben hatte. Aber auch zu katholischen Vereinen, etwa dem Katholischen Mädchenschutzverein in Freiburg (heute Pro Filia), bestanden Kontakte (S. 29ff.). Das Engagement der FJM war breit aufgestellt: „Bahnhofwerke, Bahnhofheime, Töchter- und Pensionsheime, Auskunfts- und Stellenvermittlungsbüro, Beratungsstellen für auswandernde Mädchen, Kinderheime, Erholungsheime, Strickabende, Näh- und Flickkurse, ‘Sonntagsvereinigungen’, Fürsorgestellen, Asyl für Schutzbedürftige Mädchen, Klubs für junge Mädchen etc.“ (S. 34). Im Zentrum standen die Bahnhofwerke, die als SOS Bahnhofhilfe in neuer Form heute noch bestehen. Diese lokale Initiative, 1884 zunächst in Genf, zwei Jahre später dann in Zürich eingeführt, war erste Anlaufstelle für alleinreisende Frauen aus der ganzen Welt. Wie alle Tätigkeiten der FJM waren auch jene der Vereinsfrauen am Bahnhof freiwillig und unentgeltlich, wobei das Bahnhofwerk ab 1931 einen jährlichen Unterstützungsbeitrag von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) erhielt, um einen Teil der Unkosten zu decken (S. 34ff.). Der Verein musste sich immer wieder flexibel neuen Bedingungen anpassen. Besonders augenfällig wird dies bei den Bahnhofwerken, die zunächst junge Frauen bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft unterstützten – die FJM verfügten über eigene Heime und Pensionen – und später die Arbeit auf weitere Begleit- und Betreuungsdienste verlagerten. Eine wichtige Zäsur bildete der Erste Weltkrieg, als der Verein die Truppen- und Verwundetentransporte unterstützte, ein Engagement, das später in den Jahren 1956 und 1968 mit der Betreuung von Flüchtlingen aus Ungarn und der Tschechoslowakei weitergeführt wurde (S. 44ff.). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm auch die Entwicklung der staatlichen Jugendfürsorge und damit die Konkurrenz auf diesem bislang von Frauen geprägten Gebiet Einfluss auf die weitere Ausgestaltung des Vereins: So stellte sich die Frage nach dem Verhältnis „zwischen der neuen staatlichen und tendenziell männlich geprägten Fürsorge und der traditionellen privaten, vornehmlich weiblichen Fürsorge“ (S. 60). Die FJM behaupteten sich auch hier, unter anderem, da sie selbst seit den Anfängen auf Professionalisierung setzten. Wichtiger wurde mit der Zeit die Öffentlichkeitsarbeit und Positionierung, etwa anlässlich der Landesausstellung von 1914 in Bern sowie der Landi 1939 in Zürich (S. 61ff.). Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es erneut zu einer Neuausrichtung und anstelle der Vermittlung von Dienstbotenstellen wurden für Mädchen Au-pair-Stellen in der Romandie und in Großbritannien gesucht (S. 70ff.).

Der zweite Teil untersucht in erster Linie die konfessionelle Ausrichtung des Vereins. Die Gründerinnen stammten aus dem protestantischen Bürgertum. Im sozialen Handeln orientierten sie sich an einer christlichen Ethik, die auch als Gegenkonzept zum Sozialismus zu verstehen war. Hier ist insbesondere die christliche Freizeitfürsorge zu nennen: Durch die Etablierung eines Freizeit- und Ferienprogramms sollte sowohl der „drohende[n] Vereinnahmung der Dienstmädchen durch den aufkommenden Sozialismus“ (S. 93) wie auch der Bedrohung der moralischen Sittlichkeit, etwa durch häufige Kinobesuche, begegnet werden. Der dritte Teil mit dem Titel „Die Freundinnen schaffen Freiräume“ befasst sich mit den neuen Orten der Moderne, wie dem Sozialraum Bahnhof. Hier sind teilweise thematische Überschneidungen und Wiederholungen in der Argumentation zum ersten Teil zu verzeichnen. Der Blick auf den Bedarf an Räumlichkeiten für Frauen birgt aber auch neue Einsichten, etwa in den Ausführungen zu den Heimgründungen wie dem ersten Marthahaus in Biel oder später in Zürich (S. 134ff.). Der letzte Teil der Publikation befasst sich mit der Entwicklung im 21. Jahrhundert: Inzwischen blickt der Verein auf 135 Jahre Tätigkeit zurück. Seit 1999 agieren in der Schweiz sechs gemeinnützige Vereine unter dem Namen „Compagna“. Ob sichere Räume für Sexarbeiterinnen oder die in der Schweiz bekannte Bahnhofhilfe – das Erbe des ehemaligen Vereins Freundinnen Junger Mädchen ist vielfältig (S. 170ff.).

Die drei Autorinnen bieten in ihrer Publikation einen spannenden Einblick in die frühen Anfänge der Sozialen Arbeit und verbinden die Geschichte des Vereins FJM gekonnt mit der Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates. Sie leisten damit einen Beitrag, die zumeist unentgeltliche Vereinsarbeit von Frauen im Bereich der Fürsorge aufzuarbeiten, und beleuchten dabei auch Widersprüche des Vereins zwischen der Selbstermächtigung junger Frauen und dem Verharren in einem bürgerlich geprägten Frauenbild.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu: Philipp Sarasin, Art. „Prostitution“, 14.12.2011, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016559/2011-12-14/> (22.10.2021); Anita Ulrich, Bordelle. Strassendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Eine sozialgeschichtliche Studie der Prostitution am Beispiel der Stadt Zürich, Zürich 1985; Philipp Sarasin / Regula Bochsler / Patrick Kury, Wertes Fräulein, was kosten Sie? Prostitution in Zürich 1875–1925, Baden 2004.
2 Vgl. dazu: Elisabeth Joris, Art. „Sittlichkeitsbewegung“, 24.1.2013, in: Historisches Lexikon der Schweiz, <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/> (22.10.2021).
3 Vgl. dazu: Sabine Jenzer, Die „Dirne“, der Bürger und der Staat. Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1930er Jahre, (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 3), Köln 2014. Zur Entwicklung in Deutschland vgl. u.a: Heike Schmidt, Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, Wiesbaden 2002.
4 Zur Entstehung der Sozialen Arbeit in der Schweiz vgl: Sonja Matter, Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960), Zürich 2011; Sabine Hering / Berteke Waaldijk, Die Geschichte der Sozialen Arbeit in Europa (1900 –1960). Wichtige Pionierinnen und ihr Einfluss auf die Entwicklung internationaler Organisationen, Wiesbaden 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
28.01.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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