A. Franc: Von der Makroökonomie zum Kleinbauern

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Titel
Von der Makroökonomie zum Kleinbauern. Die Wandlung der Idee eines gerechten Nord-Süd-Handels in der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung (1964-1984)


Autor(en)
Franc, Andrea
Erschienen
Berlin 2020: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
XI, 274 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Weispfennig, Forschungszentrum Europa, Universität Trier

Fairer Handel ist mehr als nur eine Modeerscheinung: Von Westeuropa ausgehend existieren seit über einem halben Jahrhundert ganz verschiedene Ansätze alternativen Handel(n)s. Dementsprechend sind in den vergangenen Jahren bereits einige historische Aufarbeitungen zum Thema erschienen.1 Die Basler Historikerin Andrea Franc wählt dagegen einen eigenen Zugang, indem sie den fairen Handel als Symptom beschreibt, das Entwicklungen in der Dritte-Welt-Bewegung widerspiegelt. In ihrer Habilitationsschrift beschäftigt sie sich mit der Entstehung einer impliziten „unheiligen Allianz“ zwischen der Schweizer Dritte-Welt-Bewegung und nationalkonservativen Akteuren (S. 5). Hinter dieser Formulierung verbirgt sich eine zeitgeschichtliche Untersuchung an der Schnittstelle zwischen Intellectual History und der Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung, in deren Zentrum die Organisation Erklärung von Bern (EvB, heute: Public Eye) steht.

Francs Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. In den ersten beiden Kapiteln führt sie die Leser/innen zunächst an die Ideengeber/innen heran, die an der Formulierung und Gründung der EvB beteiligt waren. Diese wurde 1968 aus theologischer Motivation gegründet und steht in der Arbeit meist synonym für die Schweizer Dritte-Welt-Bewegung. Diese implizite Gleichsetzung wäre als solche fragwürdig, ist hier jedoch nicht entscheidend für die inhaltliche Aussage. Demnach sei insbesondere die EvB für die entwicklungspolitische Meinungsbildung in der Schweiz im Laufe der 1970er-Jahre mitverantwortlich gewesen. Erhellend ist die eingehende Quellenanalyse der Erklärung von Bern von 1968, die die Grundlage der gleichnamigen Nichtregierungsorganisation war. Ihre Forderungen bauten auf denen der damals noch als „Entwicklungsländer“ bezeichneten Staaten des Globalen Südens in der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) vier Jahre zuvor auf. So seien für die frühen Jahre der EvB die Forderung nach einer Verbesserung der Handelsbedingungen für die Länder des Globalen Südens sowie die Aufforderung zu verstärkten Direktinvestitionen westlicher Privatfirmen in diese zentrale Elemente gewesen. Miteinander verknüpft sollten diese Maßnahmen die Potentiale zum Export von verarbeiteten Gütern erhöhen und die Abhängigkeit von Rohstoffexporten verringern. Laut Franc habe sich bereits früh eine Widersprüchlichkeit im Ansatz der EvB gezeigt: Zwar habe sie sich für die Übernahme des selbstbewusst vorgetragenen entwicklungsökonomischen Anspruchs der UNCTAD-Länder ausgesprochen. Gleichzeitig sei aber der theologisch-karitativ motivierte Aufruf zur Spende von drei Prozent des eigenen Einkommens für die „Dritte-Welt-Arbeit“ erfolgt. Diese Zielsetzung sei am UNCTAD-Motto „trade, not aid“ vorbeigelaufen.

Darauf aufbauend verweist Franc ab Kapitel drei auf das von Ernst Friedrich Schumacher vertretene Ideal einer „Rückkehr zum menschlichen Maß“ als gemeinsamen Nenner zwischen Umwelt- und Dritte-Welt-Bewegung, der aber eben auch von Nationalkonservativen geteilt wurde. Diese hätten sich in dem Kontext lediglich auf den Schutz Schweizer Kleinbauern bezogen. Die Abkehr vom wirtschaftswissenschaftlich fundierten entwicklungstheoretischen Denken bezeichnet die Autorin treffend als „paraakademisch“ (S. 172) und problematisiert vor allem die Abkehr der EvB von einer wissenschaftsbasierten Entwicklungstheorie. So sei ab den frühen 1970er-Jahren zunehmend ein Zentrum-Peripherie-Modell in die Position der EvB und in die Dritte-Welt-Bewegung insgesamt eingeflossen: Den Eliten in den Zentren von sogenannten Industrie- und Entwicklungsländern stünden Peripherien gegenüber, die miteinander solidarisch sein sollten. Im Ergebnis seien kleinbäuerliche Peripherien in den „Entwicklungsländern“ und in der Schweiz gleichsam schützenswert erschienen. Damit sei aber auch die Weiterentwicklung kleinbäuerlicher Strukturen in den „Entwicklungsländern“ nicht mehr selbstverständlich. Im Gegenteil: Das statische Bild des zufriedenen Kleinbauern, wie das vierte Kapitel diskutiert, sei zu einem Kernelement des sich formierenden fairen Handels geworden, der den Handelspartnern einen angeblich fairen Preis verschaffe, aber keinen weitergehenden Zielhorizont biete. Die beginnende Professionalisierung des fairen Handels zu Beginn der 1980er-Jahre stellt den Schlusspunkt der Betrachtung dar.

Inhaltlich ist Francs gewählter Zugriff auf das Thema gleich aus mehreren Gründen anregend. Zunächst stellt die Gedankenfigur des statischen Kleinbauern den Zielhorizont im fairen Handel in Frage. Mit verbraucherwissenschaftlichem Schwerpunkt wird hier oft auf die Selbstermächtigung eines moralischen Konsumenten verwiesen, der selbstständig für Gerechtigkeit im Außenhandel eintrete.2 Gegen diese Annahme ist für sich genommen nichts einzuwenden. Mit Francs Analyse muss historisch jedoch ergänzt werden, dass der als statisch konzipierte Kleinbauer als Partner das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses war, der wiederum noch vor der Etablierung des fairen Handels abgeschlossen war. Vor allem aber gelingt es der Autorin mit den Annahmen der Intellectual History, die rapide Kehrtwende der EvB innerhalb weniger Jahre zu erklären. In der konsequenten Anwendung dieses wissenschaftlichen Ansatzes liegt die Stärke des Buches, die besonders bei der Kontextualisierung von öffentlichen Statements zum Tragen kommt. Im Ergebnis können die prägenden Köpfe der EvB bis in die 1980er-Jahre zunächst identifiziert, vor allem aber deren großer Einfluss auf den Kurs der Dritte-Welt-Bewegung bis hin zur schweizerischen Entwicklungspolitik überzeugend dargelegt werden. Darüber hinaus ist der Verweis auf den gemeinsamen Nenner zwischen Umwelt- und Dritte-Welt-Bewegung nicht nur für die Erforschung der Geschichte der Neuen Sozialen Bewegungen wertvoll. Die Gedankenfigur des statischen Kleinbauern liefert einen Erklärungsansatz für die bis heute ausbleibende Problematisierung bei der Verknüpfung von fairen und ökologischen Konsumangeboten. Daher ist auch die sehr abstrakte Schlussfolgerung, wonach fairer Handel „zu einer Funktion der Entwicklungen im ‚Bio‘-Bereich“ (S. 196) geworden sei, vertretbar.

Inhaltlich dagegen diskussionswürdig ist die Diagnose der „Politikverdrossenheit“ (S. 249) in Verbindung mit der mehrfach betonten Müdigkeit der Schweizer Dritte-Welt-Bewegung zu Beginn der 1980er-Jahre. Diese Diagnose ist im Rahmen der Studie, die sich auf die EvB als Hauptvertreterin der Dritte-Welt-Bewegung bezieht, folgerichtig. Allerdings erwähnt Franc nicht, dass sich im Verlauf der 1980er-Jahre westeuropäische Dritte-Welt-Bewegungen stark mit Solidaritätsbewegungen überlappten. Die bereits erforschte Setzung von Nicaragua als sozialistischem Sehnsuchtsort innerhalb dieser Bewegungen spricht gegen die These des Utopieverlusts und der pauschalen Politikverdrossenheit zu diesem Zeitpunkt.3 Warum die EvB diese Perspektive dagegen offenbar nicht eröffnete, wird nicht problematisiert.

Mit einem Fragezeichen muss auch der Untersuchungszeitraum versehen werden: Während der Beginn 1964 sowie die Binnengliederung nachvollziehbar sind, wird das Ende des Untersuchungszeitraums nicht eingehend erläutert. Mit den frühen 1980er-Jahren trifft Franc eine Entscheidung, die sich mit bisherigen Forschungsergebnissen deckt.4 Mit Blick auf den inhaltlich schwachen Zielhorizont der EvB zum Thema Kolonialismus zur Mitte der 1980er-Jahre findet sich dazu das Urteil: „Wie einfallslos, müde und wissenschaftlich schwach war die EvB in diesem Schicksalsjahr 1983 geworden! Einzig das Abspulen der altbekannten Leier kam ihr in den Sinn.“ (S. 212) Hier wird jedoch nicht näher ausgeführt, warum gerade 1983 ein Schicksalsjahr dargestellt habe. Unklar ist auch, warum dann im Titel des Buches das Folgejahr 1984 hervorgehoben wird.

Die diskutablen Punkte können jedoch den positiven Gesamteindruck der Arbeit nicht spürbar trüben. Der Wert von Andrea Francs Arbeit für die Historiographie der Neuen Sozialen Bewegungen besteht in ihrer kritischen Interpretation mithilfe der Intellectual History. Das vorliegende Buch bietet daher einen wertvollen Beitrag zum zeithistorischen Verständnis der Debatte um Nord-Süd-Gerechtigkeit über das Fallbeispiel EvB hinaus.

Anmerkungen:
1 Siehe zum deutschen Beispiel Benjamin Möckel, Gegen die „Plastikwelt der Supermärkte“. Konsum- und Kapitalismuskritik in der Entstehungsgeschichte des „fairen Handels“, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 336–352; zuvor bereits Ruben Quaas, Fair Trade. Eine global-lokale Geschichte am Beispiel des Kaffees, Köln 2015; sowie Gavin Fridell, Fair Trade Coffee. The Prospects and Pitfalls of Market-Driven Social Justice, Toronto 2007.
2 Siehe hierzu die aufschlussreichen Überlegungen bei Sigrid Baringhorst / Mundo Yang / Katharina Witterhold, “Doing political culture” in Alltagspraktiken der Politisierung von Konsum. Theoretische und methodische Herausforderungen eines neuen Forschungsfeldes der politischen Kulturforschung, in: Wolfgang Bergem / Paula Diehl / Hans Lietzmann (Hrsg.), Politische Kulturforschung Reloaded. Neue Theorien, Methoden und Ergebnisse, Bielefeld 2019, S. 89–109.
3 Siehe hier zum deutschen Fall Frank Bösch / Caroline Moine / Stefanie Senger (Hrsg.), Internationale Solidarität. Globales Engagement in der Bundesrepublik und der DDR, Göttingen 2018.
4 Siehe etwa Sven Reichardt / Detlef Siegfried, Das Alternative Milieu. Konturen einer Lebensform, in: Dies. (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 9–24.

Redaktion
Veröffentlicht am
25.05.2021
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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