D.J. Candaux: Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag

Titel
Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag.


Herausgeber
Candaux, Jean Daniel; Cernuschi, Alain; Lütteken, Anett; Reiling, Jesko
Reihe
Themenheft Pro Saeculo XVIIIo der SGEAJ 1
Erschienen
Küsnacht 2008: Schweizerische Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, SGEAJ
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
ISBN
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Hächler, Edition Zurlaubiana, Aarg. Kantonsbibliothek Aarau

Das Jubiläum zum 300. Geburtstag von Albrecht von Haller im Jahre 2008 bescherte uns nicht nur ungezählte Veranstaltungen im In- und Ausland. Auch auf Papier wurde des grossen Berners gedacht. Die wohl bedeutsamste Publikation zum Jubiläumsjahr behandelt die zentralen Bereiche von Hallers Leben und Werk.1 Die hier anzuzeigenden beiden Werke vertiefen mit Sondierbohrungen die Überblicksdarstellung und eröffnen mitunter Felder, die dort nicht oder nur am Rande thematisiert werden konnten. Während sich das erste Themenheft der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts (SGEAJ) in eher «schöngeistigen» Gefilden bewegt, versammelt die zweite Publikation Aufsätze, die eher naturwissenschaftliche Themen ins Auge fassen.

In Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag sind acht Beiträge enthalten, die laut Editorial «eine der wichtigsten Zielsetzungen der Arbeit der SGEAJ: die interdisziplinäre und mehrsprachige Erforschung des schweizerischen Geisteslebens des 18. Jahrhunderts » dokumentieren sollen. Die ersten zwei Artikel befassen sich mit literarischen Aspekten seines Werks. Barbara Mahlmann-Bauer fragt, ob Haller ein Satiriker war. Sie bejaht die Frage anhand etlicher Belegstellen aus Hallers Gedichten. Dabei interessiert sich die Autorin nicht nur für Hallers satirisches Talent an sich, sondern auch für Hallers Auseinandersetzung mit dem satirischen Genre seiner Zeit und seinem ganz persönlichen Umgang damit. Florian Gelzer fokussiert auf die Absichten, die Haller mit seinen Staatsromanen verfolgte. Im Vergleich mit dem Goldnen Spiegel von Wieland werden unterschiedliche Konzeptionen und Vorstellungen bei den damals im Trend liegenden Fürstenspiegeln herausgearbeitet und die gegenseitige Rezeption Hallers und Wielands beleuchtet. Der detaillierten Analyse und dem Vergleich von Hallers veröffentlichten und unveröffentlichten (resp. postum edierten) Berichten seiner Exkursionen in die Alpen sowie dem Verhältnis zu deren wissenschaftlicher und insbesondere literarischer Verwertung widmet sich Aurélie Luther.

Die zwei folgenden Arbeiten setzen sich mit Haller als Beiträger zu den grossen europäischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts auseinander. Nathalie Vuillemin stellt Hallers Artikel in den Supplementbänden der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert und in der Yverdoner Encyclopédie als homogenes Werk dar. In über 300 Beiträgen hält Haller den aktuellen Forschungsstand aller von ihm aktiv bearbeiteten Gebiete der Medizin fest. Vuillemin zeigt, dass Haller dies nicht ohne gewisse Absichten macht, die dem Konzept der Enzyklopädie zuweilen diagonal entgegenstehen. So verfasst er die Artikel nicht mit dem von den Enzyklopädisten anvisierten Zielpublikum der gebildeten Laien im Fokus, sondern richtet sich vornehmlich an Mediziner. Er verpflichtet sich auch nicht der objektiven Wissensvermittlung, sondern durchtränkt gemäss Vuillemin seine Beiträge für die Enzyklopädien mit seinen eigenen Vorstellungen über die Erfolg versprechenden Methoden und Konzepte der medizinischen Wissenschaft. Insofern könne man Hallers enzyklopädische Arbeiten als Versuch verstehen, der Nachwelt ein Kompendium zur Medizingeschichte des 18. Jahrhunderts zu hinterlassen, in dem die Prinzipien der zukünftigen Medizin und der (Natur-)Wissenschaften überhaupt festgehalten seien.

Alain Cernuschi kann aufgrund seiner Recherchen den in der Bibliographia Halleriana2 aufgeführten 303 Enzyklopädie-Artikeln Hallers 17 neue beifügen. Allerdings hatte Haller nur 216 Artikel verfasst. Die Zahl von 320 Beiträgen Hallers für die Enzyklopädien kommt durch die Mehrfachverwertung zahlreicher dieser Arbeiten zu Stande. Wie dies genau funktionierte und welche Rolle die Konkurrenzsituation der beiden Enzyklopädie-Projekte dabei spielte, steht im Zentrum von Cernuschis Beitrag. Tobias Pfeifer stellt sich die Frage, welche Bedeutung für Haller die Illustration literarischer Werke hatte. Anhand etwas weitschweifiger Ausführungen kommt er zum Schluss, dass Haller die Funktion der Illustration für die literarische Produktion – ähnlich derjenigen in wissenschaftlichen Werken – in der Unterstützung des geschriebenen Textes sah. Über das Sehen wird eine andere, unmittelbarere Ebene der menschlichen Empfindung angesprochen als über intellektuelle Vermittlung mittels Worten. Deshalb muss die Illustration so nah wie möglich an der Natur sein, sonst verfehlt sie ihren Zweck gänzlich. Thomas Freivogel widmet sich in einem kurzen Beitrag dem – nie realisierten – Entwurf für ein Haller-Denkmal von Christian Cay Lorenz Hirschfeld.

Nicola Schneider wirft ein Licht auf einen fast vergessenen Rezeptionsstrang von Hallers dichterischem Werk. Er stellt fest, dass im 18. Jahrhundert zwischen 1734 und 1789 insgesamt 19 Vertonungen von Haller-Gedichten belegt sind. Obwohl Haller bekanntlich kein grosser Freund der Musik war, hat er dennoch in seinem Alpengedicht das «ungeschmückte Lied», das «Volkslied im ursprünglichen Sinne» (S. 131) als Ausdrucksmittel gelobt. Es darf deshalb nicht erstaunen, dass die Berliner Liederschule, die sich diesem Credo verpflichtet fühlte, sich sowohl theoretisch als auch praktisch am intensivsten mit der musikalischen Umsetzung von Hallers Poesie beschäftigte. Aber auch in Hamburg, Wien und Zürich entstanden Lieder auf der Basis von Haller-Gedichten. Schneider analysiert einige davon in musikwissenschaftlicher Hinsicht und macht plausibel, welche Gründe die Komponisten zur Vertonung bewogen.

Ein ganz kurzer Kommentar von Anett Lütteken zur Abbildung auf der Umschlagrückseite (einer Teekanne mit Hallers Porträt) schliesst das Werk ab, das insgesamt nur spärlich illustriert ist, aber dennoch ein illustres Bild der eher geisteswissenschaftlichen aktuellen Haller-Forschung zeigt. Leider beschränkt sich die im Editorial postulierte Interdisziplinarität im Wesentlichen darauf, dass einzelne der Autorinnen und Autoren auch Publikationen ausserhalb ihres engen Forschungsbereichs zur Kenntnis genommen haben, was mit Interdisziplinarität im eigentlichen Sinne noch nichts zu tun hat, sondern einfach der an sich selbstverständlichen Neugier der Forschenden geschuldet ist. Nichtsdestotrotz ein lesenswertes Heft für Haller-Interessierte und Dixhuitièmistes.

Das zweite anzuzeigende Werk ist weniger homogen, sowohl was den Inhalt und die Qualität, als auch was die Gestaltung und formale Aspekte betrifft. Hallers Landschaften und Gletscher versammelt in Artikelform je acht Referate der von der Interakademischen Kommission Alpenforschung (ICAS) organisierten Vortragsreihe von Hallers Landschaften im April und Mai 2008 im Schweizerischen Alpinen Museum sowie der von der Naturforschenden Gesellschaft in Bern durchgeführten Fachtagung Hallers Gletscher heute vom 17. Oktober 2008 in Bern. Mit je einem Aufsatz von Barbara Mahlmann-Bauer und Tobias Pfeifer aus der ersten Vortragsreihe wird personell und thematisch die Verbindung zum oben besprochenen Themenheft der SGEAJ hergestellt. Mahlmann-Bauer analysiert sehr stringent Hallers berühmtestes Gedicht Die Alpen in seinen politisch-moralischen, wissenschaftlich-botanischen und poetischen Dimensionen und führt vor Augen, dass Haller seine dichterischen und wissenschaftlichen Werke nach einem Gesamtkonzept entwickelt hat, in dem sich beide Felder gegenseitig bedingen und befruchten.

Pfeifer geht in seinem Aufsatz der Frage nach, welchen Einfluss Haller auf die Berner Landschaftsmalerei, insbesondere auf den Maler Johann Ludwig Aberli, hatte, und kommt zum Schluss: «Die literarische Form der naturbeschreibenden Poesie beeinflusste Aberli und dessen künstlerisches Umfeld.» (S. 35).

Ebenfalls auf Hallers Alpen-Gedicht stützt sich Raimund Rohdewald für seine These, Haller habe die Landschaftswahrnehmung zu seiner Zeit grundlegend verändert, indem er die Beschreibung einer Gegend «holistisch» anging und Ästhetik, Wissenschaft, Ethnografie und Ökonomie einbezog, wodurch sich die Darstellung nicht mehr wie früher statisch-eindimensional, sondern dynamisch-plastisch präsentierte. Nicht nur die veränderte Landschaftswahrnehmung, sondern die Veränderungen in der Landschaft selbst lassen sich anhand von Hallers Werk rekonstruieren. Dies zeigt eindrücklich Luc Lienhard in seinem Vergleich der Schweizer Flora des 18. und des 21. Jahrhunderts. In seiner Schweizer Flora von 1742 / 1768 legt Haller ausführliche Fundortangaben der beschriebenen Pflanzen vor, schildert das allgemeine Vorkommen und die ökologischen Ansprüche jeder Art. Lienhard korreliert Hallers Flora mit der aktuellen botanischen Bestandesaufnahme der Schweiz und kann markante Unterschiede feststellen, die den dramatischen Landschaftswandel in den letzten 250 Jahren unterstreichen. Gleichzeitig können durch solche Vergleiche wertvolle Hinweise zum Schutz gefährdeter Pflanzen gewonnen werden.

Zwei Elemente, die Hallers Alpen-Gedicht prägen, die «ästhetische Idealisierung (‹Schönheit›)» und die «ökonomische Ressource (‹Nuzen›)» (S. 61), sind Ausgangspunkt von Gerrendina Gerber-Vissers und Martin Stubers spannender Studie über die von der Oekonomischen Gesellschaft Bern (OeG) veranlassten Topographischen Beschreibungen des Berner Oberlands. Die Bemühungen der OeG, die «Alpenbewohner als Protagonisten der alpinen Wirtschaft» (S. 77) wahrzunehmen, waren – nicht ausschliesslich, aber auch nicht unwesentlich – von Haller beeinflusst. Allerdings ändert sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Verständnis der alpinen Bevölkerung. Hallers Idealisierungen entsprechen nicht mehr der wirtschaftlichen Stossrichtung der Ökonomen. Modernisierung und Ressourcenoptimierung verlangen ein anderes Wirtschaften. Erst als der Tourismus zu einem relevanten Wirtschaftzweig wird, internalisieren die «Bergler » die ehemals exogenen Idealisierungen als Werbeargument.

Hallers Alpen in der Kartografie ist ein Artikel von Madlena Cavelti Hammer betitelt. Leider löst die Autorin den im Titel anklingenden Anspruch, Hallers Bedeutung für die Kartografie belegen zu können, nicht ein. Vielmehr referiert sie ganz allgemein die Entwicklung der Kartografie zur Zeit Hallers. Den Haller-Bezug stellt sie eher oberflächlich mittels Hallers bereits verschiedentlich gewürdigtem Beitrag zu Micheli du Crests Alpenpanorama und seiner Förderung von Horace-Bénédict de Saussure her. Ganz anders geht Jon Mathieu in seiner kurzen Abhandlung über Alexander von Humboldt und Haller vor. Ihn interessiert nicht primär die Bedeutung von Hallers Werk für Humboldt. Knapp und überzeugend stellt Mathieu dar, dass Hallers wissenschaftliche Arbeiten nur geringen Einfluss auf Humboldts Werk hatten. Seine Frage zielt vielmehr darauf, wieso Wissenschaftsdisziplinen einen «Gründungsvater» beanspruchen und wieso die moderne Gebirgsforschung sich auf Humboldt einigte und nicht auf andere mögliche Kandidaten wie Haller oder Saussure.

Heinz J. Zumbühl zeichnet akribisch die zunehmend realistischen Gletscherdarstellungen in der Malerei des 18. Jahrhunderts nach, insbesondere im Werk von Caspar Wolf, und untersucht die Wechselwirkungen zwischen Hallers Alpen-Gedicht, den Bildern von Wolf und der Entstehung der Gletscherforschung Ende des 18. Jahrhunderts. Eindrücklich zeigt er auch auf, wie die historischen Bildquellen und anderes historisches Quellenmaterial heute fruchtbar in der modernen Gletscherforschung ausgewertet werden.

Die aus Referaten an der obgenannten Fachtagung entstandenen folgenden acht Artikel haben ausser dem Untersuchungsgegenstand Alpen und Gletscher kaum mehr einen Bezug zu Haller. Zwar stellt Bruno Messerli das Tagungsthema in seiner hier abgedruckten Begrüssungsrede eloquent in eine Linie geschichtlicher Zusammenhänge, und Peter Lüps unterstreicht mit einer Sammlung von Belegstellen aus Hallers Reisebeschreibungen, Gedichten, Rezensionen und Briefen das Interesse Hallers an den Gletschern und der Gletscherwelt und analysiert seine Funde kurz in Bezug auf den wissenschaftlichen Gehalt hin. Aber die folgenden sechs Arbeiten haben keinen Bezug mehr zu Haller und seiner Zeit. Sie thematisieren alle – ausser einem Beitrag von Albert Hafner über Gletscherarchäologie – die heutige naturwissenschaftliche Gletscherforschung als Teil der Klimaforschung. Für die Klimageschichte sind diese Arbeiten sicherlich sehr lohnenswert, da sie zum Beispiel die Gletscherbewegungen physikalisch erklären und dadurch mit Klimaphänomenen in Beziehung setzen (Andreas Bauder) und dank dendrochronologischen Methoden in langen Zeitreihen bis in antike Zeiten zurückverfolgen können (Hanspeter Holzhauser). Hochkomplexe Forschungsmethoden an den polaren Eisschilden erlauben gar klimatische Aussagen über lange prähistorische Zeiträume (Bernhard Staufer). Auch sind Erkenntnisse über die kleine Eiszeit zu gewinnen (Heinz Wanner), und nicht zuletzt stellen sich angesichts des feststellbaren rasanten weltweiten Gletscherschwunds Fragen nach den politischen, technischen, ökonomischen und sozialen Massnahmen (Wilfried Haeberli).

Anmerkungen:
1 Steinke, Hubert; Boschung, Urs; Pross, Wolfgang (Hrsg.): Albrecht von Haller:
Leben – Werk – Epoche. Göttingen 2008.

2 Steinke, Hubert; Profos, Claudia (Hrsg.): Bibliographia Halleriana. Verzeichnis
der Schriften von und über Albrecht von Haller. Basel 2004.

Zitierweise:
Stefan Hächler: Rezension zu: Candaux, Jean Daniel; Cernuschi, Alain; Lütteken, Anett; Reiling, Jesko (Hrsg.): Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag, Themenheft Pro Saeculo XVIIIo der SGEAJ, Nr.1, 2008: Hallers Landschaften und Gletscher. Beiträge zu den Veranstaltungen der Akademien Schweiz 2008 zum Jubiläumsjahr «Haller300», Sonderdruck aus den Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern, NF, Bd. 66, 2009. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 86-91.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.04.2011
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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