Burgerbibliothek Bern: Die Vögel der Familie Graviseth

Cover
Titel
Die Vögel der Familie Graviseth. Ein ornithologisches Bilderbuch aus dem 17. Jahrhundert


Herausgeber
Burgerbibliothek Bern
Reihe
Passepartout, 2
Erschienen
Bern 2010: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
112 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bernhard Schär

«Passepartout» heisst eine Publikationsreihe, die 2009 von der Burgerbibliothek Bern ins Leben gerufen wurde. In ihr werden ausgewählte Trouvaillen aus dem Archiv einer breiteren Öffentlichkeit nähergebracht. Während die erste Nummer spätmittelalterlichen Handschriften gewidmet war, dreht sich die zweite Nummer um ein Bilderalbum mit rund 200, teilweise spektakulären Vogelbildern aus dem 17. Jahrhundert. Das Album gehörte dem Patrizier und Bernburger Jakob Graviseth, der mit seiner Familie das Schloss Liebegg im damals bernischen Aargau bewohnte. Die gemalten Vögel wurden mehrheitlich auf dem bernischen Herrschaftsgebiet gejagt, gefangen und gekauft. Manche erhielt Graviseth als Geschenk. Später wurden die Vogelbilder zu einem Buch gebunden und sind auf Wegen, die heute nicht mehr restlos rekonstruierbar sind, in die Bibliothek der Burgermeinde gelangt.

Unter dem schlichten Titel «Die Vögel der Familie Graviseth» werden nun nicht nur viele der Vogelbilder in einem grosszügigen Format farbig abgebildet. Ergänzt wird die Publikation von drei Expertentexten des Historikers Martin Germann, des Ornithologen Peter Lüps und des Kunsthistorikers Georg Herzog. Dieses Konzept – eine Quelle und drei Texte aus drei Perspektiven – überzeugt. Leserinnen und Leser erhalten Einblicke in eine Welt, in der eine aus heutiger Sicht beeindruckend bunte Vielfalt von Vögeln zum Alltag der Menschen zählte. So überflogen offenbar weit mehr Vögel die hiesigen Breitengrade auf ihrem Weg ins Winterquartier als heute. Dies erschliesst Peter Lüps anhand der Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit, gewisse Vögel mit damals gängigen Jagdmethoden zu fangen – eine Quelle spricht von «bögli, lätsch, körbli, fallen, zug-, streck- und schnellgarn» –, relativ gering war. Da viele dieser Vögel im Album der Familie Graviseth vertreten sind, muss ihr Vorkommen vergleichsweise gross gewesen sein. Angaben über den Kauf von Vögeln auf dem Markt der Stadt Bern offenbaren, dass das Angebot an Geflügel und anderen Speisevögeln reichhaltiger war, als dies bislang aus anderen Quellen bekannt war. Dank Kommentaren von Jakob Graviseth, die er neben den Zeichnungen platzierte, wissen wir zudem, wie viele der Vögel mundeten. Der Kampfläufer war offenbar ungeniessbar, da er «so fischelte». Mit Ausführungen dieser Art führen Lüps, Herzog und Germann vor Augen, wie wichtig Jagen, Essen, Malerei, aber auch Bildung in der Alltagskultur der bernburgerlichen Obrigkeit des 17. Jahrhunderts waren. So versuchte Graviseth alle Vögel mithilfe der damals zugänglichen ornithologischen Standardliteratur, die er in seiner Bibliothek besass, zu bestimmen. Etliche Vögel wurden ihm von befreundeten von Graffenrieds, von Wattenwyls, Steigers, von Diesbachs und anderen einschlägigen Familien geschenkt. Damit beleuchtet das Buch also auch familiäre und politische Netzwerke innerhalb der bernischen Elite des 17. Jahrhunderts. Nebst diesen Jagd-, Ernährungs- und generell sozial- und kulturgeschichtlichen Dimensionen kommen aber auch spannende umweltgeschichtliche Aspekte zur Sprache. Etwa dort, wo anhand der Herkunft der Vogelarten auf den Zustand und die Veränderungen von Landstrichen geschlossen wird.

Der Schreibstil der drei Autoren ist eher nüchtern. Dennoch ist die Lektüre angenehm, passagenweise sogar spannend. Etwa dort, wo Germann auf eine rätselhafte anonyme Spottschrift namens «Heutelia» eingeht, welche nach Graviseths Tod erschien und Pikanterien aus dessen Haushalt verbreitete. Fast im Stil eines Detektivs breitet Germann eine Fülle von Indizien aus, die den Hauslehrer der Familie Graviseth als Autor vermuten lassen, was – wenn die These zuträfe – erhellende neue Sichtweisen auf die Quelle eröffnen würde. Auch Herzog wartet in seiner Analyse mit einer spannenden These auf. Es geht darum, dass die Maler der Vogelbilder des gravisethschen Familienalbums allesamt unbekannt sind. Herzog argumentiert, dass einige der qualitativ besseren Bilder von Albrecht Kauw stammen müssen. Der bekannte Strassburger Künstler hatte sich zu jener Zeit in Bern niedergelassen. Insofern eröffnet das gravisethsche Vogelbuch Zugang zu einem bislang unbekannten Teil von Kauws Werk.

Was man, vorab aus wissenschaftshistorischer Sicht, vermissen wird, ist eine Darlegung der damaligen ornithologischen Systematik, die Graviseth offenbar für die Zusammenstellung seiner Bilder anwendete. Mehr darüber zu erfahren, wäre nicht zuletzt deshalb spannend, weil sich seit dem 18. Jahrhundert bis hin zu den «ornithologischen Bestsellern» des 21. Jahrhunderts (Lüps), offenbar zahlreiche Ornithologen auf das gravisethsche Vogelbuch bezogen – freilich ohne je die Originalquelle konsultiert zu haben, wie Lüps anmerkt.

Ornithologisch und kunstgeschichtlich interessierte Lesende werden vielleicht bedauern, dass die Bilder auf der mitgelieferten CD-ROM nur in einer relativ schwachen Auflösung präsentiert werden. Ausserdem wäre es für die Leserführung hilfreich gewesen, die verschiedenen Texte der drei Autoren im Buch gestalterisch besser voneinander abzuheben und mit einer Autorenzeile zu versehen. Dessen ungeachtet beeindruckt das Werk, weil es exemplarisch vor Augen führt, wie man eine Quelle zum Sprechen bringt. Es liesse sich daher auch in der Lehre propädeutisch nutzen. Man darf gespannt sein, mit welcher Trouvaille die Reihe «Passepartout» in ihrer nächsten Nummer aufwartet.

Zitierweise:
Bernhard C. Schär: Burgerbibliothek Bern (Hrsg.): Die Vögel der Familie Graviseth. Ein ornithologisches Bilderbuch aus dem 17. Jahrhundert. Bern: Stämpfli 2010 . Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 4, Bern 2010, S. 46-48.

Redaktion
Veröffentlicht am
11.04.2011
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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