Fürsorgerische Zwangsmaßnahmen – Berichte aus den Kantonen Uri und Zug

: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri Altdorf 2022 : Gisler 1843, ISBN 978-3-906932-35-4 155 S. CHF 30,00

: Fürsorgen, vorsorgen, versorgen. Soziale Fürsorge im Kanton Zug von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Zürich 2022 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1693-3 528 S. CHF 48,00 / € 48,00

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Lengwiler, Universität Basel

Die beiden Studien, die hier zu besprechen sind, stehen in einer Reihe von Forschungen, die in den letzten Jahren zur Geschichte fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz erschienen sind. Diese fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen sind – wie ihre Abkürzung FSZM auch – ein sperriges Phänomen. Sie beziehen sich einerseits auf behördlich verfügte Einweisungen von Kindern und Jugendlichen in geschlossene Erziehungsheime. Andererseits bezeichnen sie auch administrativrechtliche Versorgungen von Jugendlichen und Erwachsenen in geschlossenen Anstalten. Solche Administrativversorgungen standen vor ihrer Abschaffung 1981 im Widerspruch zur Menschenrechtskonvention des Europarates. Das Verbindende dieser Maßnahmen besteht darin, dass sie sozialstaatliche Zwangsinstrumente bilden. Rechtlich sind sie ein chamäleonartiges Instrument. Sie konnten im 19. und 20. Jahrhundert aus armen-, vormundschafts- oder strafrechtlichen Gründen – im Rahmen des Maßnahmenvollzugs – erfolgen.

Die Aufarbeitung von Missbräuchen in der Heimerziehung ist Bestandteil zweier größerer nationaler Forschungsprogramme, die von den schweizerischen Behörden in den letzten Jahren initiiert wurden: eines spezifisch zu administrativen Versorgungen, das andere allgemein zu fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen. Hinzu kamen zahlreiche Detailstudien zu einzelnen Regionen, Kantonen, Städten oder Einrichtungen.1

Trotzdem sind verschiedene Kantone, Einrichtungen oder Opfergruppen noch kaum untersucht. Die beiden hier zu besprechenden Studien schließen an diesen lückenhaften Forschungsstand an und widmen sich je einem noch nicht erforschten Kanton. Die Studie des Teams von Autorinnen und Autoren um Thomas Meier behandelt den Kanton Zug, die Arbeit von Susanne Businger und Nadja Ramsauer untersucht den Kanton Uri. Bei beiden Kantonen handelt es sich um traditionell katholische, mehrheitlich ländliche Gebiete der Zentralschweiz. Beide Untersuchungen entstanden als Auftragsarbeiten. Die Zuger Studie wurde vom Kanton beauftragt, jene zu Uri geht auf eine Initiative des Historischen Vereins des Kantons zurück. Beide Arbeiten gründen auf dem Studium bislang unbearbeiteter Archivakten. Und beide kombinieren qualitative, fallanalytische Zugänge mit statistischen Erhebungen. Zeitlich decken sie einen ähnlichen Zeitraum ab, der vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht.

In Umfang und Gliederung zeigen sich hingegen klare Unterschiede. Beim Buch von Meier et al. handelt es sich um ein voluminöses Werk von über 500 Seiten, gegliedert in fünf thematische Teile mit insgesamt 16 Kapiteln, eingerahmt von einer Einleitung und einem ausführlichen Fazit. Der erste Teil präsentiert – anhand von 29 Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Heimangestellten – die Betroffenenperspektive. Der zweite Teil umfasst einen detaillierten rechtshistorischen Abriss über die Gesetzesgrundlagen der kantonalen Sozialhilfe – mit einem spezifischen Fokus auf das Armen-, das Vormundschafts- und das Sozialversicherungsrecht. Im dritten Teil stehen die Strukturen der Sozialhilfe im Vordergrund. Zur Darstellung kommen statistische Überblicksdaten, die Entwicklung der Heiminfrastruktur sowie der Trägerschaften und Akteure der Sozialhilfe. Der vierte Teil behandelt die Fürsorgepraxis, wobei sowohl staatliche Behörden als auch kirchliche und private Organisationen (unter anderem das Seraphische Liebeswerk) beleuchtet werden. Der fünfte Teil schildert schließlich den Alltag in Fürsorgeeinrichtungen – von den Armenhäusern über die Kinderheime bis zur stationären Psychiatrie.

Die Arbeit von Businger und Ramsauer musste mit einem geringeren Budget auskommen; entsprechend fällt ihr Umfang mit rund 150 Seiten schmaler aus. Die Autorinnen untersuchen die Fürsorgepraxis anhand von fünf exemplarischen Gemeinden, wobei der Fokus auf administrativen Versorgungen und Anstaltseinweisungen liegt. Die Arbeit gliedert sich in drei chronologisch aufgebaute Teile, gerahmt von einer Einleitung und einem Schluss. Der erste Teil befasst sich mit der Zeit von 1850 bis 1945 und behandelt jene Phase, in denen Anstaltseinweisungen vor allem armenrechtlich begründet wurden. Im zweiten Teil, der die Zeit von der Jahrhundertwende bis Mitte der 1970er-Jahre abdeckt, stehen vormundschaftsrechtliche Einweisungen und Versorgungen im Vordergrund. Der letzte Teil behandelt den Übergang zum modernen Kindes- sowie Erwachsenenschutz seit den 1970er-Jahren und reicht bis in die Gegenwart.

Einiges, was aus der Forschung bereits bekannt ist, wird in den beiden Studien bestätigt. Fürsorgerische Zwangsmaßnahmen waren Bestandteil eines breiter angelegten sozialpolitischen Regimes, das auf die Ausgrenzung und Bestrafung unkonventioneller, gesellschaftlich stigmatisierter Lebensstile zielte: auf prekäre Einkommensverhältnisse, Alkoholkonsum oder außereheliche sexuelle Beziehungen. Beide Studien betonen die geschlechtsspezifischen Dimensionen dieser Maßnahmen: Bei Frauen zielten sie auf eine den Normen entsprechende Sexualität, bei Männern auf einen geregelten Erwerb. Die Kinder solcher Eltern gehörten unverschuldet ebenfalls zu den Leidtragenden. Seit den 1960er-Jahren richten sie sich zunehmend auch gegen nonkonformistische Jugendkulturen und den Konsum illegaler Drogen. Rechtlich waren die Maßnahmen unterschiedlich begründet. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden Zwangsmaßnahmen vor allem im Rahmen des Armenrechts verhängt, seit Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches 1907 wurden die armenrechtlichen Begründungen in einem jahrzehntelangen Prozess abgelöst durch das Vormundschaftsrecht (heute: Kinder- und Erwachsenenschutzrecht). Parallel gab es auch Versorgungen und Platzierungen aufgrund spezifischer Gesetze oder als strafrechtlich begründete Maßnahmen. In jüngster Zeit werden Erwachsene vor allem in psychiatrischen Einrichtungen versorgt. In geschlossenen Einrichtungen litten die Eingewiesenen unter systematischen Integritätsverletzungen wie stigmatisierenden Bestrafungsritualen oder sexueller Gewalt. All dies wird in beiden Studien detailliert und anschaulich dargestellt.

Beide Studien verweisen zudem auf die Vielfalt von Einrichtungen, die für den Vollzug fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen genutzt wurde. Der Kanton Uri ist klein und konnte sich – abgesehen von einem Kinderheim – keine eigenen Anstalten leisten. Die Behörden nutzten außerkantonale Einrichtungen. Der Kanton Zug verfügte über eine ausdifferenzierte Landschaft an Einrichtungen, zu denen Armenhäuser, Heime, aber auch Spitäler sowie – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zunehmend auch ambulante Einrichtungen des Gesundheitswesens gehörten. Dabei zeigen sich auch die für die Schweiz typischen gemischten Akteurskonstellationen im Sozialstaat. Zahlreiche Einrichtungen wurden von privaten Akteuren wie beispielsweise gemeinnützigen Vereinen oder katholischen Schwesterorden betrieben, die durch den Staat – mehr schlecht als recht – entschädigt wurden. Generell spielten ökonomische Überlegungen für Heimeinweisungen und Anstaltsversorgungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sparsame Kantone wie Uri ließen sich beim Einweisungsentscheid nicht primär von erzieherischen Kriterien leiten, sondern fokussierten die Ausgaben und bevorzugten die kostengünstigeren Einrichtungen.

Insgesamt war ein substanzieller Anteil der Bevölkerung von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen betroffen. Für Zug liegen Zahlen vor. Sie betreffen allerdings vormundschaftliche Maßnahmen insgesamt. Bis zum Ersten Weltkrieg waren jährlich rund zwei Prozent der Bevölkerung von solchen Maßnahmen betroffen, danach sank der Anteil kontinuierlich bis auf knapp ein Prozent. Auf diesem Stand bewegt er sich bis heute. Im Kanton Uri war jährlich rund ein Promille der Bevölkerung von einer fürsorgerischen Zwangsmaßnahme betroffen. Über die Jahre hochgerechnet bedeutet das, dass im 20. Jahrhundert bis zu fünf Prozent der Bevölkerung mit dem Risiko konfrontiert waren, irgendwann während des Lebens fremdplatziert oder versorgt zu werden. In beiden Kantonen gilt: Seit den 1960er-Jahren haben Versorgungen in geschlossene Einrichtungen stark abgenommen.

Diese bekannten Einsichten werden in den beiden Publikationen für die untersuchten Kantone empirisch bestätigt. Darüber hinaus betreten diese Studien auch inhaltlich Neuland. Neu ist zunächst, dass die Autorinnen und Autoren den Opfern fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen viel Raum in ihrer Darstellung zugestehen. Die Zuger Studie widmet das umfangreiche erste Kapitel vollständig der Perspektive von Opfern und Verantwortlichen – zu den Verantwortlichen gehören in erster Linie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der untersuchten Einrichtungen. Insgesamt wurden dreißig Personen interviewt, die Mehrheit davon waren Opfer. Auch die Urner Studie führte Interviews durch und widmet ein Kapitel der Betroffenenperspektive. Dabei wird die Sicht von Betroffenen durchaus differenziert rekonstruiert. Die Zuger Studie verweist auch auf die schwierige Situation der Erziehenden, die in finanziell unterausgestatteten Heimen unter teils prekären Bedingungen arbeiten mussten. Und die Urner Arbeit betont, dass Missbrauch und Gewalt nicht nur in Heimen, sondern auch in den Herkunftsfamilien der Fremdplatzierten zum Alltag gehörte.

Innovativ sind die beiden Studien zudem, weil sich ihre Analyse konsequent bis in die Gegenwart erstreckt. Sie relativieren damit den viel zitierten Umbruch in den 1970er- und 1980er-Jahren – von rechtsstaatlich fragwürdigen zu rechtlich korrekten Maßnahmen. Denn Zwangsmaßnahmen werden auch heute noch verfügt – beispielsweise bei Suchtkrankheiten oder in Fällen von akuter Selbst- oder Fremdgefährdung. Die Maßnahmen führen heute oft bis zur Einweisung in die Psychiatrie. Die neuere Entwicklung fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen zeichnet sich gemäß den beiden Studien durch eine fortschreitende Professionalisierung der Sozialarbeit, neue Formen der Armut (Stichwort: Feminisierung der Armut) sowie die zunehmende Bedeutung der Drogenprävention aus.

Insgesamt präsentieren sich beide Studien als rundum gelungene Arbeiten, an denen sich künftige Forschungen in diesem Feld orientieren werden. Trotzdem bestehen nach wie vor bedeutende Forschungslücken, die es zu schließen gilt. Das wichtigste Desideratum betrifft die Einordnung der Heimerziehung in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen. Wir besitzen mittlerweile detaillierte Kenntnisse über die Missbräuche in geschlossenen Erziehungseinrichtungen, wissen aber kaum Vergleichbares zur Erziehung in Herkunftsfamilien oder in Pflegefamilien. Auch andere Bereiche des Bildungswesens wie das Schulsystem oder das Vereinswesen für Kinder und Jugendliche sind schlecht untersucht. Wieweit die Missstände im Heimwesen ein spezifisches Problem des Heimsektors oder aber ein gesamtgesellschaftliches Phänomen sind, bleibt damit unklar. Noch kaum untersucht ist zudem die transgenerationelle Perspektive, obwohl wir aus den Selbstzeugnissen von Betroffenen wissen, dass viele Traumatisierungen auf die nächsten Generationen übertragen werden. Schließlich sind die Übergänge zwischen Zwangs- und freiwilligen Maßnahmen wenig erforscht. Der Fall Zug verweist auf einen Umstand, der auch aus anderen Studien bekannt ist. Seit den 1930er-Jahren erfolgten zehn bis zwanzig Prozent der vormundschaftlichen Maßnahmen freiwillig, das heißt auf Begehren der Betroffenen selbst. Dahinter stehen oft familiäre Konflikte oder höchst prekäre Einkommensverhältnisse, die Betroffene dazu verleiteten, aus eigenem Antrieb Zuflucht in geschlossenen Anstalten zu suchen. Entgegen ihren Hoffnungen erwies sich die neue Umgebung – dies zeigen die beiden Studien in überzeugender Weise – nicht immer als heilbringender Ort.

Anmerkung:
1 Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (Hrsg.), Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981 (Schlussbericht) (Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, Bd. 10 A), Zürich 2019. Vgl. für die Projekte und Publikationen des Nationalen Forschungsprogramms „Fürsorge und Zwang“, https://www.nfp76.ch/de (09.06.2024). Vgl. exemplarisch auf kantonaler Ebene die beiden Studien zum Kanton Zürich: Beat Gnädinger / Verena Rothenbühler (Hrsg.), Menschen korrigieren. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Kanton Zürich bis 1981, Zürich 2018; Susanne Businger / Nadja Ramsauer, „Genügend goldene Freiheit gehabt“. Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950–1990, Zürich 2019.

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Veröffentlicht am
19.07.2024
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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