C. Moser: Der Jurakonflikt

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Titel
Der Jurakonflikt. Eine offene Wunde der Schweizer Geschichte


Autor(en)
Moser, Christian
Erschienen
Zürich 2020: NYU Press
Anzahl Seiten
220 S.
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Tobias Kaestli

An einem Freitagabend im März 2017 trafen sich gut hundert Frauen und Männer im Säli des Restaurants «La Chevauchée» in Lajoux; Mittelpunkt war der ehemalige Terrorist des Front de Libération Jurassien (FLJ) Marcel Boillat. Christian Moser, der Augenzeuge, schildert das Treffen so: «Boillat, aufgestachelt durch das Beifallklatschen und das Lachen des Publikums, macht sich in Lajoux am Jubiläumsabend auch über die Opfer seiner damaligen Verbrechen lustig. Unter anderem über die Familie, die jenen Bauernhof namens Sous-la-Côte bewirtschaftete, den er im Juli 1963 angezündet hat. Ein Mitglied dieser Familie sitzt zwei Meter von Boillat entfernt im Saal: Monique Ummel geborene Schlup.»

Die Familie Schlup, deutschsprachige Täufer, bewirtschaftete Sous-la-Côte als Pächter; Besitzer war der Kanton Bern. Als der Bund in den Freibergen einen Waffenplatz errichten wollte und Land erwarb, verkaufte der Kanton den Hof dem Eidgenössischen Militärdepartement. Die Pächterfamilie Schlup war damit keineswegs einverstanden, was sie aber nicht davor schützte, dass der FLJ eines Nachts im Juli 1963 in der Scheune Feuer legte, sodass die Eltern, die damals 24-jährige Tochter Monique und deren Brüder das Haus fluchtartig verlassen mussten. Damals wusste man noch nicht, dass der FLJ faktisch nur aus zwei bis drei Personen bestand.

Warum ging Monique Ummel-Schlup an das Treffen in Lajoux? Boillat habe sie eingeladen, erzählt sie. Einen ersten Kontakt mit ihm habe es schon 2014 gegeben, als Boillat, der ehemalige Weinhändler und Wirt, der sich in Spanien zum Kunstmaler entwickelt hatte, eine Auswahl seiner Bilder in Le Noirmont ausstellte. Sie sei hingefahren, um Boillat zu vergeben.

In den 1960er-Jahren verübten Boillat und sein Komplize Jean-Marie Joset unter dem Namen FLJ Brand- und Sprengstoffanschläge und verbreiteten so Angst und Schrecken. 1964 wurden die beiden gefasst und eingesperrt. 1966 verurteilte das Bundesstrafgericht Boillat zu acht und Joset zu sieben Jahren Zuchthaus. 1967 gelang Boillat die Flucht aus der Walliser Strafanstalt Crêtelongue. In Spanien bekam er politisches Asyl. Fünfzig Jahre später konnte er sich gefahrlos in Lajoux aufhalten, denn die Verjährungsfrist war längst abgelaufen. 2020 starb er im Alter von 91 Jahren in Spanien.

Soweit die Zusammenfassung des ersten von zwölf Kapiteln in diesem Buch, in dem Christian Moser verschiedene Facetten des Jurakonflikts schildert. Das Schwergewicht legt er auf die Zeit zwischen den ersten Anschlägen des FLJ und der Gründung des Kantons Jura. Nur im zehnten Kapitel geht er auf die geschichtlichen Vorbedingungen und die Wurzeln des Separatismus im 19. und 20. Jahrhundert ein. Kurz blendet er zurück auf die Entstehung des Fürstbistums Basel im Mittelalter und auf die Vereinigung mit dem Kanton Bern im Jahr 1815. In knappen Strichen schildert er die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, wobei ihn vor allem die Frage interessiert, ob die durch die Juraplebiszite herbeigeführte Teilung in einen Kanton Jura und den Berner Jura Zufall oder historische Notwendigkeit war.

Bei der Beantwortung dieser Frage stützt sich Moser auf den 1986 vom Regierungsrat des Kantons Bern herausgegebenen Bericht Der Berner Jura und sein Kanton. Darin ist ein Abriss der geschichtlichen und politischen Entwicklung der Jurafrage vom Mittelalter bis zur Gegenwart enthalten. Verfasser waren die beiden Berner Historiker Ulrich Im Hof und Beat Junker. Ihre nicht unkritische Darstellung konfrontiert Moser mit den Aussagen des jurassischen Historikers Bernard Prongué, emeritierten Professors der Universität Fribourg, und des verstorbenen, jurapolitisch engagierten Geschichtslehrers Victor Erard aus Porrentruy.

Während man auf bernischer Seite meistens davon ausgeht, dass das ehemalige Fürstbistum aus unterschiedlichen Teilen bestand, behauptet die jurassische Seite eine ursprüngliche innere Einheit, da der Fürstbischof ja Rechtsquelle für das ganze Gebiet zwischen Bielersee und Ajoie gewesen sei. Diese Einheit sei, sagt Prongué, seit dem 14. Jahrhundert nach und nach zerstört worden, indem die Städte Basel, Solothurn und Bern ihren Einfluss geltend gemacht hätten. Beispielsweise habe Bern der Propstei Münster einen Burgrechtsvertrag aufgezwungen. Nach der Reformation von 1528 seien dann das Münstertal und das Gebiet südlich der Pierre Pertuis zum neuen Glauben übergetreten, in geistlicher Hinsicht also näher an Bern herangerückt und damit dem katholischen Norden des Fürstbistums entfremdet worden.

Nach dem Anschluss des ganzen Fürstbistums an den Kanton Bern entstand im Nordteil sehr schnell eine separatistische Bewegung, anfänglich stark geprägt vom liberalen Politiker Xavier Stockmar aus Porrentruy, dem die Berner Obrigkeit wegen separatistischer Äusserungen den Prozess machte; die Anklage lautete auf Hochverrat. Diese Art der bernischen Überreaktion geht wie ein roter Faden durch die Geschichte der Beziehung zwischen dem Staat Bern und dem jurassischen Landsteil. In der erwähnten Broschüre von 1986 hält Beat Junker dazu fest: «Im Rückblick ist der Eindruck schwer abzuweisen, die Regierung habe unter dem Einfluss von Gerüchten und Grosssprechereien Gefahren überschätzt und Massnahmen ergriffen, die nicht im richtigen Verhältnis zum Vorgefallenen standen.»

Gerüchte und Grosssprechereien gibt es bis heute. Bei Erscheinen von Mosers Buch stand die zweite Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit Moutiers noch bevor. Deshalb wohl steht im Untertitel etwas von einer offenen Wunde. Doch der Autor gesteht auch zu, dass die Jurafrage mit staatsrechtlichen Mitteln glänzend gelöst worden sei, seit der Bund seine Verantwortung in dieser Sache wahrgenommen habe.

Mosers Buch kann schwerlich als «die erste umfassende Darstellung des Jurakonflikts» angesehen werden, wie es der Verlagsprospekt verspricht. Zutreffender wäre ein Titel gewesen, der auf die Aktionen des FLJ und der Béliers hinweist. Denn die Taten und Untaten dieser beiden Gruppierungen bilden das Schwergewicht in diesem Buch, das streng genommen weder eine historische noch eine soziologisch-politologische Analyse des Jurakonflikts ist, sondern einerseits eine farbige Erzählung, andererseits eine eher langweilige Aufzählung von terroristischen Anschlägen und politischen Aktionen, von gerichtlichen Anklagen und Urteilen.

In seiner aktiven Zeit als Journalist bei der Berner Zeitung und als Radioreporter berichtete Moser immer wieder über den Jurakonflikt. Wahrscheinlich legte er sich mit der Zeit einen dicken Stapel von Zeitungsberichten und anderem Material an, den er nun, nach seiner Pensionierung, ausgewertet und zu einem Buch verarbeitet hat.
Klar strukturiert ist der Text nicht; Wiederholungen wirken oft verwirrend. Der Reportagestil und der journalistische Ton bleiben erhalten, genaue Quellenangaben gibt es nicht. Dafür eine nützliche Chronologie im Anhang, die von der Affäre Moeckli 1947 bis ins Jahr 2020 reicht.

Der Wert des Buchs liegt vor allem darin, dass Moser aus persönlicher Bekanntschaft mit Boillat und anderen Akteuren im Jurakonflikt eine plastische Vorstellung von den Ereignissen gewonnen hat. Deshalb wird manches, worüber wir als deutschsprachige Berner den Kopf schütteln, aus der blossen Erzählung heraus verständlich. Minutiös listet er sodann alle Aktionen des FLJ und der Béliers auf und benennt die politischen und strafrechtlichen Folgen. In dieser Beziehung hat er ein nützliches Nachschlagewerk geschaffen.

Zitierweise:
Tobias Kaestli: Rezension zu: Moser, Christian: Der Jurakonflikt. Eine offene Wunde der Schweizer Geschichte. Basel: NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 4, 2020, S. 64-67.

Redaktion
Veröffentlicht am
26.08.2021
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