F. Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz

Cover
Titel
Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Eitel, Florian
Reihe
Histoire 113
Erschienen
Bielefeld 2018: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
630 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Adrian Zimmermann, Forschungsprojekt "Smallcons" c/o Bürogemeinschaft Kontext, Universitäten Lausanne und Amsterdam

Uhrenarbeiter aus dem Berner Jura spielten eine wichtige Rolle in der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) oder 1. Internationalen und vor allem in den Konflikten, die zu deren Spaltung führten. Die vom Vallon de Saint-Imier aus koordinierte Fédération jurassienne wurde zum Sammelpunkt der entstehenden anarchistischen Strömung der Arbeiterbewegung. Florian Eitel wirft in seiner Dissertation einen neuen Blick auf die Juraföderation. Ihre transnationale Vernetzung, aber auch ihre lokale Verankerung stehen dabei im Fokus einer auf ausgedehnten Quellenstudien beruhenden «mikrohistorischen Globalgeschichte».

Das Buch ist in drei thematische Teile gegliedert. Der erste behandelt unter dem Titel «Saint-Imier und Sonvilier in der Globalisierung» die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umbrüche im von der Uhrenindustrie geprägten Vallon de Saint-Imier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eitel weist namentlich mittels einer minutiösen Auswertung der Steuerregister von Sonvilier eine sehr starke Zunahme der sozialen Ungleichheit nach. Das weitverbreitete Bild vom privilegierten Uhrenarbeiter, der dank seinen Leistungen zum Kleinunternehmer aufsteigen konnte, erweist sich damit als realitätsfern. Heimarbeit und kleine Ateliers blieben zwar bedeutend, zunehmend hielt aber auch in der Uhrenindustrie der mechanisierte Grossbetrieb Einzug, so mit der 1866 in Saint-Imier gegründeten Fabrik Longines.

Kurz nach dem Beschluss des IAA-Kongresses in Den Haag, die führenden Anarchisten Michail Bakunin und James Guillaume auszuschliessen, trafen sich deren Anhänger Mitte September 1872 in Saint-Imier zu einem Gegenkongress. Faktisch zerfiel die IAA damit in zwei konkurrierende Organisationen. Der zweite Teil beginnt mit einer Kollektivbiografie der aus Italien, Spanien, England, Russland und der Schweiz stammenden Teilnehmer des Kongresses von Saint-Imier. Dank aufwendigen Forschungen in den lokalen Archiven kann Eitel ein klares Profil der bisher wenig bekannten einheimischen Teilnehmer skizzieren. Weiter belegt er die grundlegende und wegweisende Bedeutung der Kongressresolutionen für die anarchistische Bewegung. Schliesslich rekonstruiert er anhand der «Diffusion und Rezeption» der Resolutionen die Bedeutung der neuen Kommunikationsmittel für die transnationale Vernetzung der Anarchisten. Internationale Treffen, Vortragstourneen auswärtiger Referenten und Demonstrationen (etwa anlässlich der Märzfeier 1877 in Bern) wurden von der Eisenbahn erleichtert. Post und Telegramm ermöglichten den Aufbau von Korrespondenznetzwerken über weite Distanzen, die Rotationspresse eine billigere und grössere Verbreitung von Broschüren und Zeitungen. Presseorgane wurden über Landesgrenzen hinweg ausgetauscht und druckten Meldungen voneinander ab. Es entstand eine anarchistische «Gegenöffentlichkeit », die einen «globalen» Anspruch erhob, aber faktisch «translokal» strukturiert war.

Gegenstand des dritten Teils sind die Weltsicht und die Praxis der anarchistischen Bewegung im Vallon de Saint-Imier. Unter dem Eindruck von zwei schweren Krisen 1867 / 68 und 1874 – 1879 und sich zuspitzenden Arbeitskonflikten bildete sich in der Uhrenarbeiterschaft zunehmend ein «Globalitäts- und Klassenbewusstsein» heraus. Die Mitglieder der Juraföderation gründeten eine Vielzahl von Hilfskassen, Genossenschaften und Gewerkschaften. Aus der Sicht ihrer Initianten sollten diese Institutionen nicht nur der Selbsthilfe und Interessenvertretung dienen, sondern auch Keimzellen der angestrebten neuen Gesellschaftsordnung darstellen. Eine Vielfalt von «kulturellen Praktiken» – Lieder, Fahnen, Umzüge und Gedenkfeiern sind hier ebenso Thema wie Geldsammlungen für Streikende und politisch Verfolgte – zielten auf eine «Gemeinschaftsbildung» ab. Schliesslich behandelt Eitel die seiner Einschätzung nach quasireligiöse Erwartung der Anarchisten, dass eine Revolution unmittelbar bevorstehe. An Eitels Studie besticht der konsequent angewandte «translokale» Ansatz. Seine Ausführungen zur Bedeutung der neuen Kommunikationsmittel und der Weltmarktabhängigkeit der Uhrenindustrie für die Entstehung der Juraföderation sind originell und überzeugend. Dasselbe gilt für seine auf minutiösen Quellenstudien beruhenden Ausführungen zu den lokalen Akteuren und ihrem Umfeld.

Durchzogener fällt die Bilanz zum beträchtlichen Aufwand aus, den Eitel betreibt, um seine Forschungsergebnisse mittels einer eher eklektisch wirkenden Auswahl von Theorien zu erklären. Die Schlussfolgerungen nach den einzelnen Kapiteln erhalten durch den häufigen Rückgriff auf die Begrifflichkeiten der angewandten Theorieansätze stellenweise einen etwas schematischen Charakter.

Wünschenswert wäre stattdessen eine stärkere Einbettung der Forschungsergebnisse in die Geschichte der Arbeiterbewegung. So liesse sich präziser nachvollziehen, was an den von der Juraföderation gegründeten gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Institutionen, aber auch am Klassen- und «Globalitätsbewusstsein» ihrer Mitglieder spezifisch anarchistisch und was Allgemeingut aller Strömungen der sozialistischen Arbeiterbewegung war. War der Weg Adhémar Schwitzguébels (1844 – 1895) vom führenden Kopf der Juraföderation zum Mitarbeiter des vom Bund subventionierten Arbeitersekretariats tatsächlich ein derart starker biografischer Bruch, wie von Eitel nahegelegt? Eitels an der Globalisierungstheorie orientierter Ansatz erklärt, warum die Uhrenarbeiter zu internationalistisch orientierten Gewerkschaftern wurden, aber weniger, warum sie darüber hinaus zu Anarchisten wurden.

Diese kritischen Bemerkungen schmälern keineswegs den sehr positiven Gesamteindruck. Eitel gelingt nicht nur eine kohärente Neuinterpretation der Geschichte der Juraföderation, er präsentiert auch eine Fülle von neuen empirischen Erkenntnissen. Sein Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Juraföderation und ihr Umfeld interessieren. Es ist reich illustriert und ansprechend gestaltet. Ein Personenregister, Glossare zur Uhrenindustrie und zu lokalhistorischen Ausdrücken sowie eine Zeittafel erleichtern die Benutzbarkeit.

Zitierweise:
Adrian Zimmermann: Rezension zu: Eitel, Florian: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert. Bielefeld: Transcript 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 4, 2020, S. 52-54.

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Veröffentlicht am
23.08.2021
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