M. Cottier: Fatale Gewalt

Cover
Titel
Fatale Gewalt. Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868–1941


Autor(en)
Cottier, Maurice
Reihe
Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 31
Erschienen
Konstanz 2017: UVK Verlag
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 39,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Eva Keller

Die engen Zusammenhänge zwischen Gewalthandlungen und Ehrvorstellungen wurden in der historischen Forschung bereits mehrfach behandelt. Untersuchungen darüber, wie sich die Entwicklung moderner Subjektivität auf Gewalt und Gewalthandlungen auswirkt, stehen dagegen noch aus. Mit seiner 2017 erschienenen Dissertation Fatale Gewalt. Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868 – 1941 will Maurice Cottier diese Lücke schliessen. Er untersucht zu dem Zweck 363 Kriminalakten zu Gewalt- und Sexualdelikten aus dem Berner Stadtarchiv, die den Zeitraum von 1868 bis 1941 abdecken. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Dauer des Bestehens des kantonalbernischen Strafgesetzbuchs, sodass die Quellenbasis einer juristisch einheitlichen Phase entspringt – eine zentrale Voraussetzung für die Vergleichbarkeit der Quellen und ein gewichtiger Pluspunkt der vorliegenden Studie.

Im Fokus von Cottiers Analyse steht die Frage nach einer veränderten Thematisierung und Wahrnehmung schwerer Gewalt- und Sexualverbrechen während des Untersuchungszeitraums. Gleichzeitig fragt er nach einem Zusammenhang zwischen der langfristigen Abnahme von Gewaltdelikten und der Entwicklung Berns als sich modernisierender Kleinstadt. Dabei stellt er die These auf, dass das Verhalten der Stadtberner Bevölkerung immer stärker von einem «modernen Subjekthabitus» bestimmt wurde, der den traditionellen, «alteuropäischen Ehrhabitus» ablöste (S. 14).

Seine These begründet Cottier in seiner umfangreichen Einleitung, die sich nicht nur der Entwicklung Berns und seiner Strafjustiz, sondern insbesondere der Gewaltforschung widmet. Als Erklärung für die sinkende Zahl von Gewalthandlungen seit der frühen Neuzeit diente bisher meist die Zivilisationstheorie Norbert Elias’: Durch den sukzessiven Wandel zu rationaleren Methoden der Konfliktaustragung sei die affektiv gesteuerte Gewalt stetig zurückgegangen. Cottier wendet sich gegen diese These, indem er überzeugend ausführt, dass erstens Gewalt auch in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ehrgesellschaften einem komplexen sozialen Gefüge entsprang. Zweitens übersehe Elias die «ästhetisch-leidenschaftlichen Selbstentwürfe» (S. 52) moderner Subjekte, die insbesondere durch die Kunst gestützt würden. Folgerichtig widmet sich Cottier daraufhin dem Begriff der Tragik in der Literaturwissenschaft und macht anhand dessen die widersprüchliche Wahrnehmung von Gewalt im Subjekthabitus deutlich.

Im zweiten Teil des Buchs folgt die konkrete Auseinandersetzung mit den Berner Kriminalfällen, wobei sich Cottier zunächst den Gewalt- und im Anschluss den Sexualverbrechen widmet. Beide Gruppen unterteilt er in zwei Phasen. So untersucht er jeweils zunächst diejenigen Fälle, die sich als ehrbezogene Delikte einstufen lassen. Sie entsprechen sowohl in Bezug auf die Sozialprofile der Beteiligten als auch im Hinblick auf Praktiken, Kontexte und Narrative weitgehend denjenigen Mustern, die aus der Forschung über Gewalt in der frühen Neuzeit bekannt sind. Insbesondere macht Cottier deutlich, dass die Delikte in den Verhören kaum je argumentativ gerechtfertigt, sondern vielmehr als situativ entstanden dargestellt werden. Dies ändert sich in der zweiten Phase, später im Untersuchungszeitraum: Die Delikte werden nun vermehrt in eigentliche Narrative eingebettet, indem die Beschuldigten ihre subjektiven Befindlichkeiten darlegen und die Tatmotive ausführlich rechtfertigen. Dabei werden oft auch quasi determinierte Situationen konstruiert, in denen die Gewalthandlung als unausweichlich dargestellt wird. Die Veränderungen der zweiten Phase zeigen sich auch bei den Sozialprofilen der Beteiligten: Entstammen die Täter zunächst vor allem ländlichen Gegenden und üben landwirtschaftliche Berufe aus, werden sie sukzessive von Städtern abgelöst, denen sich keine typischen Berufe mehr zuordnen lassen. Auch die Tatorte verschieben sich in die Stadt, in den häuslichen, privaten Raum.

Cottiers Untersuchung zeigt damit zum einen, dass der Begriff der Ehre bis weit über die Wende zum 19. Jahrhundert hinaus eine zentrale Rolle für Gewalt- und Sexualdelikte spielt. Zum anderen wird deutlich, dass auch die «vernünftig-moralische Subjektivität» der Moderne nicht vor gefühlsgeleiteten Gewaltausbrüchen gefeit ist. Im Gegenteil zeigt Cottier, dass Gewalthandlungen als Alternative zur vernunftdominierten Selbstkontrolle gar einen integralen Bestandteil des modernen Subjekthabitus darstellen. So gelingt ihm mit seiner Studie ein gehaltvoller und sehr lesenswerter Beitrag zur historischen Gewaltforschung und zur Geschichte der Subjektivität.

Zitierweise:
Eva Keller: Rezension zu: Cottier, Maurice: Fatale Gewalt. Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868 – 1941. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2017. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 4, 2020, S. 48-49.

Redaktion
Veröffentlicht am
20.08.2021
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit