Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (Hrsg.): Schlussbericht

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Titel
Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Schlussbericht


Herausgeber
Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen
Reihe
Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen 10 A
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 38,00; CHF 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Michèle Hofmann

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz mindestens 60 000 Personen administrativ versorgt, das heisst, diese Menschen wurden ohne Gerichtsurteil und ohne dass sie eine Straftat begangen hatten, in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen. Administrative Versorgungen waren Bestandteil eines breiten Spektrums an sozialpolitischen Massnahmen, die spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verfügt und vollzogen wurden. Diese Behördenpraxis, die mit Eingriffen in die persönliche Freiheit verbunden und anfällig für Willkür war, wurde schon früh kritisiert. Im vorliegenden Bericht und auch anderswo wird als wichtige kritische Stimme immer wieder der Berner Schriftsteller Carl Albert Loosli (1877 – 1959) genannt, der selbst als Kind fremdplatziert und bis zu seiner Volljährigkeit in mehreren Anstalten versorgt wurde. Ungeachtet der Kritik von Loosli und anderen begann sich eine breite Schweizer Öffentlichkeit erst um die Jahrtausendwende für die sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu interessieren. Erst dann stiessen die Stimmen von Betroffenen vermehrt auf Gehör, und es wurde ein Aufarbeitungsprozess angestossen. Als Teil dieser Aufarbeitung setzte der Bundesrat 2014 eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) ein und beauftragte sie, die administrativen Versorgungen bis 1981 zu untersuchen. Die Forschungsarbeit der Mitarbeitenden der UEK resultierte in einer Publikationsreihe.1 Beim vorliegenden Schlussbericht handelt es sich um denzehnten und letzten Band dieser Reihe.

Der Schlussbericht ist in drei Teile gegliedert. Der erste und weitaus längste Teil bildet eine Synthese der Forschungsergebnisse der UEK, verfasst von Urs Germann und Lorraine Odier (unter Mitarbeit von Noemi Dissler und Laura Schneider). Die Synthese beinhaltet fünf Hauptkapitel, die von einer Einleitung und einem Fazit gerahmt werden. Einleitend legen die Autorinnen und der Autor insbesondere den Auftrag der UEK sowie die Ziele und den Aufbau ihres Berichts dar (Kap. 1). Die fünf folgenden Kapitel behandeln dann jeweils schwerpunktmässig einen Aspekt der administrativen Versorgungen: die Entwicklung der Versorgungsgesetzgebung, die sich aus «einem kaum überschaubaren Flickwerk aus kantonalen Erlassen und dem Vormundschaftsrecht des Zivilgesetzbuches» (S. 82) zusammensetzte, bis zu ihrer Ablösung durch die fürsorgerische Freiheitsentziehung im Jahr 1981 (Kap. 2); die Personengruppen, die von den Versorgungen besonders betroffen waren (Kap. 3); die Versorgungsverfahren (Kap. 4); der Vollzug der Massnahmen vom Eintritt in eine Anstalt bis zur Entlassung (Kap. 5) und schliesslich die Auswirkungen der Versorgungen auf das weitere Leben der Betroffenen (Kap. 6). Die Ausführungen erstrecken sich hauptsächlich auf die Jahre von 1930 bis 1981. Dieser Zeitraum ist so gewählt, «dass er die Lebensspanne der heute noch lebenden Betroffenen abdeckt» (S. 26). Der Endpunkt 1981 war durch den Auftrag des Bundesrats vorgegeben. Germann, Odier und ihre Mitautorinnen merken jedoch an, dass es «gute Gründe» gebe, diese «vermeintliche Zäsur» kritisch zu hinterfragen: «Fragwürdige Praktiken endeten nicht von einem Tag auf den andern» (ebd.). Die Mitarbeitenden der UEK haben im Rahmen ihrer Forschungsarbeit vier Kantone (Freiburg, Schwyz, Waadt, Zürich) eingehender untersucht. Bern gehörte zwar nicht dazu, war aber zu dem Zeitpunkt, als die UEK ihre Arbeit aufnahm, bereits relativ gut erforscht. Entsprechend flossen diese Forschungserkenntnisse2 in die Publikationen der UEK und damit auch in den Synthesebericht ein. Der Bericht endet mit einem Fazit (Kap. 7), in dem zunächst die Forschungsergebnisse zusammengefasst werden. Auf der Basis dieser Erkenntnisse werden dann die Frage nach dem Unrechtscharakter der administrativen Versorgungen und die Bedeutung der Massnahmen für die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert diskutiert. Und schliesslich skizzieren die Autorinnen und der Autor im Fazit weiterführende Forschungsperspektiven.

Die Synthese ist sehr gut strukturiert und leicht verständlich geschrieben. Fragen, die jeweils zu Beginn eines Kapitels oder Unterkapitels formuliert werden, leiten die Lektüre. Die vielen Fallbeispiele, die in den Text eingestreut sind, machen diesen anschaulich. Die Synthese wird ihrem Namen insofern gerecht, als es den Autorinnen und dem Autor gelingt, ein gesamthaftes Bild der administrativen Versorgungen in der Schweiz im 20. Jahrhundert zu zeichnen. Sie zeigen grosse Linien und Grundmuster auf, die für diese Praxis bestimmend waren – dabei gehen aber auch Fallbeispiele (Entwicklungen in einzelnen Kantonen und Einrichtungen, persönliche Schicksale) nicht vergessen.

Der zweite Teil des Schlussberichts besteht aus kurzen Texten, die von Personen geschrieben wurden, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren. Die UEK wollte ihnen «im Schlussbericht eine Stimme geben» und bat sie, «einen persönlichen Text über die laufende Aufarbeitung oder ein beliebiges anderes Thema zu schreiben, das sie hinsichtlich der Thematik als wichtig erachten» (S. 309).

Der dritte und letzte Teil beinhaltet die Empfehlungen der UEK zuhanden des Bundesrats (nebst der wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte der administrativen Versorgungen war auch die Formulierung dieser Empfehlungen Teil des Auftrags). Die Empfehlungen wurden von Christel Gumy konzipiert und redigiert und zudem mit Betroffenen besprochen.

Dem Schlussbericht – wie auch den anderen Bänden der UEK – ist zu wünschen, dass er eine grosse Leserschaft findet und den Aufarbeitungsprozess zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen weiter voranbringt. Letzteres schliesst mit ein, dass die wissenschaftlich fundierten Empfehlungen im dritten Teil des Berichts nicht toter Buchstabe bleiben, sondern in die Tat umgesetzt werden.

1 Vgl. https://www.uek-administrative-versorgungen.ch.
2 Vgl. insbesondere Rietmann, Tanja: «Liederlich» und «arbeitsscheu». Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884–1981). Zürich 2013.

Zitierweise:
Michèle Hofmann: Rezension zu: Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen (Hrsg.): Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930 – 1981. Schlussbericht. Zürich: Chronos 2019. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 78-80.

Redaktion
Veröffentlicht am
20.08.2021
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