R. Aschwanden: Politisierung der Alpen

Cover
Titel
Politisierung der Alpen. Umweltbewegungen in der Ära der Europäischen Integration (1970–2000)


Autor(en)
Aschwanden, Romed
Reihe
Umwelthistorische Forschungen (9)
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Simona Boscani Leoni, Section d'histoire, Université de Lausanne

Romed Aschwandens Buch setzt einen Trend in der zeitgenössischen Forschung der letzten Jahrzehnte fort, die sich zunehmend für den Einsatz der Netzwerkanalyse bei der Untersuchung historischer und sozialer Phänomene interessiert. Diese um einen qualitativen Ansatz erweiterte Methode ermöglicht es, die Entwicklung einer sozialen und politischen Bewegung – jene der Alpenschutzbewegung – besser zu verstehen. Die Arbeit fügt sich damit in ein weiteres Forschungsfeld ein: das der historischen Alpenforschung, die in den letzten Jahren die Wahrnehmung der Berge vermehrt durch die Linse der Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins interpretiert. Aschwanden analysiert in seinem Buch die Umweltbewegungen sowie die Debatten um die Alpenbedrohung und den Alpenschutz in der Zeit zwischen 1970 und 2000. Der Fokus liegt auf den Akteurinnen und Akteuren, ihren Initiativen und auf den zivilgesellschaftlichen Diskursen über das Thema während des Prozesses der Europäischen Integration. Das Buch beruht auf einer Dissertation, die im Rahmen des Lead-Agency Projekts „Issues with Europe – A Network Analysis of the German-speaking Alpine Conservation Movement (1975–2005)“ entstand.

In der Einleitung werden die Fragen und die sechs unterschiedlichen Forschungsfelder vorgestellt, in die Aschwanden seine Untersuchung einbettet: Erstens die historische Alpenforschung (die seit 1949 mit der Veröffentlichung von Fernand Braudels Arbeit über die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. einen grundlegenden Anstoß erfahren hat), dann die Erforschung der Kommunikation und der Politisierung der Umweltbedrohungen, drittens die Analyse der Umweltbewegungen, viertens die Entwicklung der Europäischen Integration, fünftens die Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte und – als letztes Forschungsfeld – die historische Netzwerkanalyse. Dem Netzwerkansatz ist das zweite Kapitel „Netzwerke des Alpenschutzes“ gewidmet. Mit diesem Ansatz gelingt es Aschwanden, die Alpenschutzbewegung quantitativ-deskriptiv zu analysieren und die Entwicklungen bzw. Veränderungen der Netzwerke zwischen Politik, Aktivistinnen und Experten als eine mögliche Erklärung für den nationalen und transnationalen Erfolg der Alpenschutzbewegung seit den 1990er-Jahren darzustellen.

Die Alpenschutzbewegung wird in drei Phasen periodisiert (Tabelle 1 auf S. 46): Die erste Phase (1980–1988) ist durch den Beginn der Bewegung in der Schweiz (dank der Gründung der Oberwalliser Gruppe Umwelt und Verkehr OGUV) gekennzeichnet; die zweite Phase (1989–1994) wurde von der Lancierung der Alpenschutz-Initiative bis hin zu ihrer Annahme geprägt; die dritte und letzte Phase (1995–2005) sah eine transnationale europaweite Mobilisierung und eine engere Zusammenarbeit der Alpenschutzaktivistinnen und -aktivisten vor. Gleichzeitig war diese Phase durch die Demobilisierung der Bewegung charakterisiert. Die internationale Tätigkeit einiger Akteursgruppen und Institutionen (zum Beispiel der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA) sowie die Organisation internationaler Veranstaltungen zum Thema haben eine engere Vernetzung der Aktivisten mit den Alpenschutzexpertinnen ermöglicht und folgerichtig die Anerkennung dieser Gruppen als Experten in dem Gebiet des Alpenschutzes auf einer internationalen Ebene gefördert.

Die Annahme der Alpen-Initiative (1994) und – später – der bilateralen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz (1998) interpretiert Aschwanden als einen Wendepunkt der Alpenschutzbewegung: Die Akteurinnen und Akteure kehrten zu einem nationalen Engagement zurück, und die Alpenschutzbewegung wandelte sich „von der Bewegungsorganisation zum Interessenverband“ (S. 243). Diese Entwicklungen und insbesondere die Verschmelzung der Netzwerke der Akteure der Alpenschutzbewegung und der Expertinnen sowie die Europäisierung der Alpenschutzanliegen können dank der zuvor geführten Netzwerkanalyse klar dargestellt werden. Die Ergebnisse werden durch die Untersuchung der regionalen Initiativen und der zivilgesellschaftlichen Diskurse in den weiteren Kapiteln überzeugend bestätigt.

In seiner Analyse hebt Aschwanden fünf wesentliche Veränderungen der Alpenschutzbewegung zwischen 1970 und 2000 hervor, die er als fünf Thesen formuliert. Die erste Veränderung ist die „Ökologisierung der Alpen“, d.h. die dank der Entwicklung der Ökologie und der ökologischen Sensibilität seit den 1970er-Jahren objektiv-wissenschaftliche Erweiterung der romantischen Alpenwahrnehmung. Zweitens werden die lokalen, nationalen und transnationalen Spannungen der Alpenschutzbewegung betont, ebenso die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Institutionen (zum Beispiel der 1952 gegründeten CIPRA) und Aktivisten, Politikerinnen und Expertinnen, die auf verschiedenen regionalen und internationalen Ebenen tätig waren (Kapitel 3). Dank dieser Dynamiken konnte sich die Idee der Alpen als grenzüberschreitende Naturlandschaft durchsetzen, und ihr Schutz wurde als ein gesamteuropäisches Anliegen betrachtet. Die dritte These des Buches interpretiert den Alpenschutz in Bezug auf die sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre: Die Alpenschutzbewegung wurde von den linksalternativen Milieus und von den in den Bergen wohnenden Aussteigerinnen und Aussteigern, den „Unterländer Älplern“ (S. 128), stark geprägt. Aus den Kontakten dieser unterschiedlichen sozialen Gruppen konnte die Alpen-Initiative (1989) entstehen (Kapitel 4). Ein vierter, zentraler Punkt in der Entwicklung der Alpenschutzbewegung (und Aschwandens vierte These) ist ihre Europäisierung, die in Kapitel 5 untersucht wird. Während des politischen und wirtschaftlichen Prozesses der europäischen Integration wurde es für die Alpenschutzbewegung notwendig, eine breitere, transnationale Unterstützung zu finden. Der mit der wirtschaftlichen Integration Europas verbundene, zunehmende Güterverkehr wurde als Bedrohung wahrgenommen, die eine gesamteuropäische Lösung brauchte. Die Alpenkonvention von 1991 stellt den ersten Versuch dar, eine solche gemeinsame Lösung zu finden. Die Herausforderungen im Umfeld der europäischen Verkehrspolitik werden im letzten Kapitel vorgestellt, in dem die Transitabkommen und die unterschiedlichen „marktwirtschaftlichen Maßnahmen“ zur Förderung der Verkehrsverlagerung analysiert werden. Diese Entwicklungen und den Erfolg der Alpen-Initiative (1994) sieht Romed Aschwanden als einen Grund für die Demobilisierung der europäischen Alpenschutzbewegung (die fünfte These des Buches), die sich wieder verstärkt national organisierte: In der Schweiz wurde diese Demobilisierung durch die Integration der Alpen-Initiative-Bewegung in den politischen Prozess beschleunigt.

Das Buch ist angenehm zu lesen und leistet zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Alpenschutzbewegungen in der Schweiz seit 1970. Dank der Anwendung von verschiedenen Methoden, insbesondere der Netzwerkanalyse und der Analyse der Diskurse, der Institutionen und der Tätigkeiten unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure kann die Untersuchung die Wechselwirkungen und die Annäherung der verschiedenen Netzwerke auf einer nationalen und transnationalen Ebene zeigen. Diese Entwicklung hat eine entscheidende Rolle für den Erfolg der Bewegung gespielt. Die Analyse hebt auch die Bedeutung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Debatten über den transalpinen Verkehr während des Prozesses der Europäischen Integration hervor. An manchen Stellen ist das Buch eher beschreibend als analytisch, und es sind ein paar Druckfehler zu finden, die dem Lektorat entgangen sind (S. 35, wo eine Historikerin zweimal mit dem falschen Namen genannt wird). Generell zeigt die Studie jedoch die Komplexität der Dynamiken der Alpenschutzbewegungen zwischen Städten und Alpengebieten und zwischen der Schweiz und Europa in der Zeit zwischen 1970 und 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
27.02.2023
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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