M. Roner: Autonome Kunst als gesellschaftliche Praxis

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Titel
Autonome Kunst als gesellschaftliche Praxis. Hans Georg Nägelis Theorie der Musik


Autor(en)
Roner, Miriam
Reihe
Archiv für Musikwissenschaft - Beiheft 84
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
427 S.
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christiane Sibille

2023 ist für ihn ein Jubiläumsjahr: 1773, vor 250 Jahren also, wurde Hans Georg Nägeli geboren, eine der wichtigsten Personen im schweizerischen Musikleben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Obwohl Nägeli in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand verschiedener Untersuchungen war, erstaunt es, dass bisher noch keine umfassende Biografie über ihn verfasst wurde. Auch die hier besprochene Arbeit erhebt nicht den Anspruch einer biografischen Gesamtstudie. Miriam Roner setzt sich aber bereits in ihrer Einleitung intensiv mit dieser Forschungslücke auseinander und identifiziert als mögliche Gründe sowohl die Vielfalt von Nägelis Tätigkeiten als auch die Ziele, die er mit diesen Aktivitäten zu erreichen versuchte und von denen Roner behauptet, sie würden „von Musikwissenschaftlern oft für unvereinbar gehalten“ (S. 11). Konkret handele es sich dabei um die Kombination von Nägelis Sicht auf Musik als autonome Kunst sowie sein Engagement für Musik als soziale Praxis. Genau dieses Zusammenspiel stellt Roner ins Zentrum des Buchs, das auf ihrer Dissertation beruht, die 2018 mit dem Jacques-Handschin-Preis der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft ausgezeichnet wurde.

Um Roners Arbeit in einer geschichtswissenschaftlichen Rezension gerecht zu werden, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine historisch ausgerichtete musikwissenschaftliche Studie handelt. Dies ist insofern relevant, da sich Roner ihrem Gegenstand aus einem Blickwinkel nähert, der stark von musikwissenschaftlichen Debatten und fachlichen Binnendifferenzierungen, zum Beispiel zwischen Musikästhetik und Musikpädagogik, geprägt ist. Bereits im Vorwort fasst Roner dieses Anliegen präzis zusammen: „Nägelis Schaffen in seiner gesamten Breite in den Blick zu nehmen und die einengende Betrachtungsweise einer Geschichte der Musikästhetik abzulegen, damit sein Konzept von Musik verständlich wird.“ (S. 5f.) Während eine primär in der Geschichtswissenschaft verortete Arbeit vielleicht stärker von breiteren gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ausgehend sich den Besonderheiten der Aktivitäten Nägelis nähern würde, hat Roner sich dazu entschieden, gerade die Details bzw. „Nägeli als vielseitig handelnden Akteur des Musiklebens in den Blick zu nehmen“, um daraus abzuleiten, „dass künstlerische Autonomie und soziale Funktion von Musik komplementäre Aspekte sind, die sich nicht wechselseitig schwächen oder gar ausschliessen“ (S. 11). Roner führt allerdings nicht aus, wie sie den für ihre Arbeit gewählten Ansatz innerhalb der weitverästelten Debatten über den Begriff der Autonomie in der Musik verortet.1 Für Leser:innen, die mit diesen Debatten weniger vertraut sind, erschliesst sich die überwiegend im 20. Jahrhundert in musikwissenschaftlichen Spezialdiskursen theoretisch entwickelte Dichotomie von künstlerischer Autonomie der Musik und sozialer Funktion und die von Roner angestrebte Auflösung dieses Gegensatzes daher nur schrittweise durch sorgfältige Lektüre der Arbeit.

Der einleitende Forschungsüberblick ist entlang unterschiedlicher Textformen – von Lexikonartikeln über Quelleneditionen und Monografien bis hin zu kleineren Beiträgen – gegliedert. Ein eigenes Unterkapitel ist der Perspektive der „musikwissenschaftlichen Teildisziplinen“ gewidmet, konkret der „Geschichte der Musikästhetik“ (S. 37) sowie der „Geschichte der Musikpädagogik“ (S. 42). Als ein Fazit dieser Analyse präzisiert Roner am Ende des Forschungsüberblicks die Aufgabenstellung der Arbeit. Sie weist dabei auch auf die mögliche Gefahr hin, dass eine zu enge Perspektive auf Nägeli zu „Verkürzungen und Verzerrung“ führen könnte, und stellt fest: „Die Struktur seiner Interventionen im Musikleben […] droht bei einer isolierten Behandlung einzelner Tätigkeitsfelder unverständlich zu bleiben“ (S. 47). Als weitere Schwierigkeit identifiziert Roner den umfassenden, heterogenen und kaum erschlossenen Quellenbestand. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, wählt sie einen Ansatz, der die Vielfalt als konstituierendes Element versteht, dessen Ineinandergreifen im Zusammenhang mit Nägelis Theorie der Musik untersucht werden soll. Das verbindende Element der drei ausgewählten Fallstudien ist dabei, dass Nägeli hier „musikpraktische Intervention mit Nachdenken über Musik verbindet“ (S. 47).

Im ersten Fallbeispiel stehen Nägelis Tätigkeiten als Musikalienhändler und Musikverleger im Mittelpunkt, die dieser insbesondere zwischen 1791 und 1807 ausübte. In dieser Rolle verfügte Nägeli über vielfältige Vertriebs-, Handels- und Handlungsmöglichkeiten. Er unterhielt eine Leihbibliothek für Musikalien, die zu den ersten ihrer Art in der Schweiz gehörte. Diese Leihbibliothek ermöglichte es dem interessierten Publikum, gegen eine Jahresgebühr Notendrucke für unterschiedliche Besetzungen auszuleihen. Im daran angeschlossenen Musikalienhandel konnten die Werke zudem käuflich erworben werden. Der Verlag schliesslich ermöglichte es Nägeli, Werke, die ihm interessant erschienen, selbst zu publizieren. Aufschlussreich ist auch das Ausscheiden Nägelis aus seiner Firma, die er 1807 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten abgab. Alle diese Bereiche beschreibt Roner detailliert anhand der vorliegenden Quellen, wodurch es ihr gelingt, das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Geschäftsbereiche als konstitutiv für Nägelis Geschäftstätigkeit herauszuarbeiten und sein grenzüberschreitendes Netzwerk mit anderen Verlegern, Komponisten und Druckereien aufzuzeigen.

Bereits vor dem Ausscheiden aus seinem Betrieb widmete sich Nägeli einem neuen Projekt, nämlich dem 1805 von ihm gegründeten Singinstitut, das im Mittelpunkt der zweiten Fallstudie steht. Schritt für Schritt beleuchtet Roner dessen Struktur und Geschichte, seinen Zusammenhang mit den Ideen des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi sowie das kompositorische Experimentierfeld, das sich Nägeli mit dem Institut bot. Im Hinblick auf seine Musikpraxis stellt Roner fest, dass Nägeli das Ziel verfolgte, „musikalische Erfahrungen zu organisieren“ (S. 162). Ein Beispiel hierfür ist sein unterschiedlicher Einsatz von Vokal- und Instrumentalmusik. In Konzerten mit Instrumentalwerken sollte Musik in ihrer idealen Form erklingen und damit, so Nägeli, die „Tugend geistiger Vervollkommnung des individuellen Menschen“ darstellen (S. 181). Die Vokalkonzerte sollten allgemeiner gehalten sein und die „Tugend der gesellschaftlichen Veredelung“ unterstützen (S. 181). Die Vermittlung dieses Anspruchs auf Ganzheitlichkeit, der sich bei Nägeli unter anderem in seiner Auffassung von Instrumentalmusik und Vokalmusik und der Frage von Individuum und Gemeinschaft zeigt, ist Roner ein wichtiges Anliegen.

In der dritten Fallstudie, den „Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten“ von 1826, zeigt Roner schliesslich, wie Nägeli seine Erkenntnisse auch in Form von Vorträgen vermittelte und wie diese Rednerauftritte organisiert und rezipiert wurden. Die Vorlesungen, insbesondere Nägelis Ausführungen und Anleitungen zur „Kritik“, identifiziert Roner als „praktische Interventionen mit dem Ziel, die Akteure des Musiklebens zur Gestaltung einer sozialen Praxis anzuleiten, die der Beförderung der Kunst ebenso wie der Entfaltung individueller und gesellschaftlicher menschlicher Kräfte zugutekommen soll“ (S. 278).

Gerade weil die drei Fallstudien ihre jeweiligen Themen so detailliert darstellen, ist der Verzicht auf ein resümierendes Fazit am Ende bedauerlich. Hierdurch vergibt Roner die Gelegenheit, ihre reichhaltigen und kenntnisreichen Erzählstränge nochmals im Hinblick auf Nägelis Aktivitäten im Allgemeinen und seine Theorie der Musik im Besonderen zusammenzuführen. Künftigen Leser:innen sei zudem empfohlen, im Vorfeld oder parallel zur Lektüre die informative tabellarische Übersicht zu biografischen Eckdaten Nägelis im Anhang des Buchs zu konsultieren, die wichtige weiterführende Kontextinformationen enthält. Dass die Studie, die Nägelis mannigfaltige Tätigkeiten darstellt, mit akribischer Recherche und Lektüre verbunden ist, zeigt das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis, das auch für künftige Forschungen sehr hilfreich sein wird.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mag es gelegentlich erstaunen, dass eine Arbeit, die explizit einen umfassenden Blick einnehmen will, kaum auf seine politische Rolle als Erziehungsrat bzw. Zürcher Grossrat eingeht.2 Auch ganz allgemein bildet der zeitgenössische politische Kontext und die damit verbundenen Entwicklungen in der Schweiz und im benachbarten Ausland eher den Rahmen als den Gegenstand der Untersuchung. Dies lässt sich aber, wie bereits erwähnt, mit Roners explizitem Fokus auf Nägeli und sein Verständnis von künstlerischer Autonomie und sozialer Funktion erklären. Durch diesen Schwerpunkt und die Anerkennung der Vielfalt als konstituierendem Element der Aktivitäten Nägelis gelingt es Roner schliesslich, eine neue Perspektive auf das Schaffen Nägelis zu entwickeln. Sie bietet dadurch wichtige interdisziplinäre Anknüpfungspunkte, die – unterstützt durch aktuelle Initiativen zur besseren Erschliessung von Nägelis Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich – hoffentlich auch über das Jubiläumsjahr 2023 hinaus künftig vielfältig genutzt werden.3

Anmerkungen:
1 Einen Überblick bietet: Albrecht von Massow, „Autonome Musik“, in: Handbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Wiesbaden 1994 (11 S.). Online: <https://www.musiconn.de/search?id=hmt2bsb00070509f247t258&View=mus=mus>, konsultiert am 04.01.2023.
2 Vgl. hierzu Regula Puskás, "Nägeli, Hans Georg", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.06.2009. Online: <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/020718/2009-06-22/>, konsultiert am 04.01.2023.
3 Zentralbibliothek Zürich: «Freut Euch des Lebens» – Nägeli transkribieren, Online: <https://www.zb.uzh.ch/de/ueber-uns/citizen-science/freut-euch-des-lebens-naegeli-transkribieren>, konsultiert am 04.01.2023.

Redaktion
Veröffentlicht am
14.02.2023
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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