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Titel
Kurt von Koppigen. Nach der zweiten Ausgabe von 1850 herausgegeben und kommentiert von Marianne Derron und Norbert D. Wernicke.


Autor(en)
Gotthelf, Jeremias
Erschienen
Bern 2016: Berchtold Haller Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
von
Thomas Multerer

Im Berchtold-Haller-Verlag Bern ist eine Neuausgabe von Gotthelfs Novelle oder Kurzroman Kurt von Koppigen erschienen. Herausgegeben wurde der Band von Marianne Derron und Norbert Wernicke, zwei ehemaligen Mitarbeitern der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf.

Der verarmte Junker Kurt von Koppigen reitet – wie alle Ritter der Artusepik – in die Welt hinaus, um «aventiuren» zu bestehen. Er steht zwischen seiner streitsüchtigen Mutter Grimhild und dem Knecht Jürg, der in ihm einen idealen Ritter sieht. Die Welt von Kurt, in die er nun hinauszieht, ist allerdings bloss der Oberaargau und das Mittelland, weiter als bis in die Nähe von Zürich gelangt er nicht. Auch ist er kein Gralssucher, sondern schlicht ein Raubritter, der vor keinem Streit zurückschreckt. Zwar gelingt ihm die Heirat mit Agnes, der Tochter des benachbarten Ritters von Önz, aber das ändert kaum etwas an seiner Lebensweise. An Heiligabend jedoch erscheint ihm am «Bachtelenbrunnen» bei Koppigen die Wilde Jagd; dieses Erlebnis bekehrt ihn, und er kehrt zurück zu Frau und Kind und wird ein rechtschaffener Familienvater. Den «Bachtelenbrunnen» pflegt und hegt er mit seinen Kindern als eine Idylle des Friedens.

Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass die Neuausgabe eine ganz neue und bisher weitgehend unbekannte Sicht auf die Novelle erlaubt. Kurt von Koppigen fungiert in der Ausgabe von Walter Muschg unter den «alten Geschichten», und auch in der Ein ührung geht Muschg in der Interpretation kaum über eine Raubrittergeschichte mit Lokalkolorit hinaus. In der Neuausgabe zeigt sich nun deutlich, dass Gotthelf gleichsam eine Art «Schlüsselroman» geschrieben hat. Gotthelf bezieht darin die kaiserlose Zeit, das sogenannte «Interregnum» von 1250 bis 1273, auf seine Gegenwart, die Jahre der Entstehung des Bundesstaates von 1828 bis 1848, die er parallel als eine Epoche des Faustrechts und der politischen Machtkämpfe darstellt. Das «Interregnum» des 13. Jahrhunderts wird in der damaligen Gegenwart gespiegelt. Es ist einleuchtend, von diesen zwanzig Jahren mit dem Aargauer Klosterstreit, der Jesuitenfrage, dann den Freischarenzügen und dem Sonderbundskrieg auch von einem Interregnum zu sprechen. Gotthelf hat sich eingesetzt für eine liberale Reform des Kantons, sich im Einklang wissend mit einer grossen Anzahl von Kantonen, die sich alle eine liberale Verfassung gaben. Es formierte sich aber eine Bewegung, die «Radikalen», die zu einem zentralistischen Staat tendierte. Für Gotthelf sind die Radikalen jene, die alle moralischen Grundsätze verlassen, welche die Religion aushebeln und alle gleichmachen wollen. Kurt von Koppigen erscheint nun gleichsam als ein Radikaler, der aber am Schluss durch die Begegnung mit der Wilden Jagd zu einer liberalen Haltung findet und zum mündigen Staatsbürger wird. Die Ereignisse und Wirren des 19. Jahrhunderts erscheinen im Kleide des mittelalterlichen 13. Jahrhunderts.

Es ist sehr wenig Direktes bekannt über Gotthelf als Leser. Die Herausgeber zeigen aber, indem sie die literarischen Parallelen aufdecken, dass Gotthelf ein äusserst belesener Mann war. Sie erschliessen aus dem Text, dass er die mittelalterlichen Artus-Romane, wie Wolframs Parzival oder Hartmanns Erec und Iwein, gekannt haben muss. Aber auch die zeitgenössischen Romane von Walter Scott waren ihm bekannt. Die literarischen Einflüsse werden genau und einleuchtend nachgewiesen. Das Nachwort zeigt dem Leser auf relativ kleinem Raum einen authentischen Gotthelf, wie wir ihn in vielen anderen Werkkommentaren vermissen.

Der Band ist zudem reich bebildert, vor allem mit Skizzen und Studien des Berner Künstlers Rudolf Münger. Es sind dies grösstenteils Vorstudien zur Illustration der Ausgabe Kurt von Koppigen, die Otto von Greyerz 1904 veranstaltet hat. Sie werden in diesem Band zum ersten Mal veröffentlicht.

Die Novelle ist in den Randspalten umfassend kommentiert, so sehr, dass der Leser manchmal den roten Faden verliert und der Spannungsbogen unterbrochen wird, was aber dem Gewinn der Lektüre keinen Abbruch tut.

Zitierweise:
Thomas Multerer: Rezension zu: Gotthelf, Jeremias: Kurt von Koppigen. Nach der zweiten Ausgabe von 1850 herausgegeben und kommentiert von Marianne Derron und Norbert D. Wernicke. Bern: Berchtold Haller 2016. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 81 Nr. 4, 2019, S. 69-

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 81 Nr. 4, 2019, S. 69-

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