Auch Bücher haben ihre Geschichte – aber in diesem Fall müsste man korrekterweise sagen: Bücher und Länder haben ihr besonderes Schicksal. Dass ein Band über 20 Jahre nach Stattfinden der Tagung 1999 doch noch publiziert wird, ist ungewöhnlich genug. Weit bemerkenswerter ist aber die Jubiläumskaskade, auf die das Fürstentum Liechtenstein in den letzten Jahrzehnten zurückblicken durfte und die sich in einer ganzen Reihe umfangreicher und durchaus qualitätsvoller Druckwerke niedergeschlagen hat, bis hin zum voluminösen Ausstellungskatalog «300 Jahre Fürstentum Liechtenstein»1. Der Sammelband «Herrschaft und Repräsentation» reiht sich ein in diese fruchtbare Abfolge wissenschaftlicher Studien zum Fürstentum und vor allem zu den territorialen Vorläufern, die sich bis weit ins Mittelalter zurückverfolgen lassen und die zwischen Kontinuität und Umbrüchen lavieren. Kontinuität, weil Liechtenstein auf eine jahrhundertealte Tradition adliger Herrschaft zurückblickt; Umbruch, weil das Fortbestehen dieser Herrschaft immer wieder zur Diskussion stand und neu ausgehandelt werden musste.
Solche Fragen griff die 3. Liechtensteinische Historische Tagung vom Frühsommer 1999 auf, um am Beispiel der Entstehung des Fürstentums Liechtenstein die Bedeutung von Dynastien und den Einfluss von Herrschaftssukzession zu untersuchen. Der jetzt überraschenderweise doch noch herausgekommene Tagungsband versammelt eine ganze Reihe von vielleicht nicht immer ganz aktuellen, aber auf jeden Fall lesenswerten Beiträgen, die ausgewählte Kapitel der Liechtensteiner Landesgeschichte thematisieren. Der konkrete Aufhänger der Tagung allerdings, der strategische Kauf der Herrschaft Schellenberg 1699 durch Fürst Johann Adam Andreas I. von Liechtenstein, findet im Buch selbst interessanterweise kaum Aufmerksamkeit. Der adelsgeschichtliche Fokus wird punktuell ergänzt und vertieft durch alltagsgeschichtliche Aspekte. Wie der Buchtitel aber deutlich macht, geht es primär um Herrschaft und Repräsentation und damit um eine breite Annäherung an Formen der Macht im Wechselspiel mit der Landesverwaltung.
Der Begriff «Land» ist jedoch trügerisch, wie der 2014 verstorbene Salzburger Historiker Heinz Dopsch in seinem Beitrag pointiert unterstreicht und dabei eine kritische Auseinandersetzung mit den Bezeichnungen «Land», «Landesherr» und «Landesherrschaft» einfordert. Erst die Entstehung des Reichsfürstentums Liechtenstein 1719 schuf ein übergreifendes territoriales Gebilde. In Anlehnung an Otto Brunner fragt Dopsch nach der mittelalterlichen Verwendung des Wortes «Land», nach dem Landesrecht und nach den «Trägern» des Landesbewusstseins. Die angebliche «Geburtsstunde» Liechtentsteins 1342 kontrastiert mit einer weitgehend willkürlichen Politik der Grafen und Fürsten. Erst unter den Fürsten Liechtenstein, so das Fazit von Dopsch, verschmolzen die unterschiedlichen Gebiete zu Land und Fürstentum.
Auch andere Beiträge steigen grundsätzlich ins Thema ein. So untersucht Karl-Heinz Spieß in einem anregenden Text den Zusammenhang zwischen Familienpolitik, Erbfolge und Nachkommenschaft. Das Interesse an einer hohen Kinderzahl steht dem Bemühen gegenüber, das Familienvermögen möglichst ungeschmälert weiterzugeben. Die Situation in Vaduz verweist in dieser Beziehung auf einen bescheidenen finanziellen Spielraum und auf die Rolle der Frauen, die das Erbe weitergeben und dabei für eine herrschaftliche Kontinuität sorgen. Regula Schmid Keeling beschäftigt sich ihrerseits am Beispiel von Zeichen, Wappen, Burgen oder Huldigungen mit dem Wechselspiel von Herrschaft und Repräsentation, während Jacqueline Villiger-Heibei die Interaktion von Herrschaft und Untertanen vorstellt, wie sie bei Wahlen, Ämtern, Gerichten und Eidleistungen fassbar wird.
Der Grossteil der Aufsätze greift regionalgeschichtliche Aspekte auf, die in chronologischer Abfolge den Bogen von den Freiherren von Brandis über die Grafen von Sulz und Hohenems bis zu den Fürsten von Liechtenstein schlagen. Als illustrative Fallbeispiele veranschaulichen die Beiträge von Claudius Gurt über das tragische Schicksal der Herren von Brandis im Schwabenkrieg 1499, jener des 2014 verstorbenen Vorarlberger Landesarchivars Karl Heinz Burmeister über Erbhuldigungen unter dem Haus Hohenems, der Wiener Archivarin Evelin Oberhammer über das Begräbniszeremoniell der Fürsten von Liechtenstein sowie jener des Wiener Kulturhistorikers Herbert Haupt über den Repräsentationswillen von Fürst Johann Adam I. Andreas von Liechtenstein ausgewählte Kapitel einer Adelsgeschichte, die manchmal weit von der Region wegführt.
Eine eigene Erwähnung verdienen die Beiträge der beiden Historiker Dieter Stievermann und Heinz Noflatscher, die sich schon verschiedentlich mit der Liechtensteiner Landesgeschichte beschäftigt haben. Stievermann zeigt am Beispiel der aus dem bernischen Emmental stammenden Freiherren von Brandis die Herrschaftspraxis in einem hochadligen Gebiet, wobei angesichts der dürftigen Ressourcen der Ländereien kirchliche Karrieren und weltliche Dienste zentrale Elemente der Familienpolitik bildeten. Angesichts der eher prekären Machtgrundlage mag es wenig überraschen, dass der Memoria großen Wert beigemessen wurde. Noflatscher hingegen greift das Bild der «glücklichen sulzischen Zeiten» auf, die das 16. und frühe 17. Jahrhundert zu einer blühenden Epoche verklären. Dahinter mögen die Erfahrungen mit den wenig beliebten Hohenemser stehen, im Vordergrund steht jedoch die Modernisierung der sulzischen Verwaltung. Das unterschiedliche Schicksal der Brüder Christoph, Rudolf und Karl Ludwig von Sulz verweist differenziert auf Nuancen der Herrschaftsausübung, auf die Bedeutung der juristischen Ausbildung (mit dem Vorsitz im Reichskammergericht) wie auch auf die beachtlichen Karrieremöglichkeiten unter Habsburg, die alle indirekt zu «Reformen im Interesse des Gemeinen Nutzens» (S. 167) in Liechtenstein führen.
Einen reizvollen Abschluss erhält der Tagungsband durch den weit ausgreifenden Beitrag von Elisabeth Crettaz-Stürzel, die am Beispiel des Wiederaufbaus von Schloss Vaduz die Burgenrenaissance zwischen 1800 und 1914 als ein eigenes Kapitel der europäischen Bau- und Adelsgeschichte vorstellt. So «mittelalterlich» authentisch Schloss Vaduz auch erscheint, die heutige Schlossanlage ist das Resultat einer längeren Diskussion europäischer Bauhistoriker, die in Konkurrenz zueinander unterschiedlichste Burgenerneuerungskonzepte verfolgten. Schloss Vaduz sah bei seiner Vollendung 1914 so «glaubwürdig 'alt' aus, wie es vorher in seiner Geschichte nie ausgesehen hatte […], ein Stück Südtirol mit einem Schuss Wien am Rhein» (S. 244). Dass ausgerechnet diese Burg heute Symbol des «Ländles» ist, obwohl sie erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als ständiger fürstlicher Wohnsitz dient, ist hingegen eine andere Geschichte.
Bedauerlich ist einzig, dass die Publikation nicht den Sprung in die jüngste Geschichte wagt, als das Fürstentum sein heutiges Erscheinungsbild erhielt und die fernen Fürsten plötzlich zu sehr präsenten Herren wurden. Im Unterschied zu anderen Ländern ist adlige Herrschaft und Repräsentation in Liechtenstein nicht einfach Vergangenheit, sondern ein durchaus aktuelles – und kontroverses – Thema.
Anmerkung:
1 Rainer Vollkommer (Liechtensteinisches Landesmuseum) (Hrsg.), 300 Jahre Fürstentum Liechtenstein: 1719–2019, Vaduz 2019.