Ortsbürgergemeinde St. Gallen (Hg.): Die Ortsbürgergemeinde St. Gallen

Titel
Die Ortsbürgergemeinde St. Gallen.


Herausgeber
Ortsbürgergemeinde St. Gallen
Erschienen
St. Gallen 2017: Verlagsgenossenschaft St.Gallen
Anzahl Seiten
264 S.
von
Martin Stuber, CH-Geschichte und WSU, Historisches Institut, Universität Bern

Der auf die Helvetik zurückgehende Gemeindedualismus zählt zu den verfassungsrechtlichen Besonderheiten der Schweiz. Bis heute existiert vielerorts nicht nur eine Politische Gemeinde (Einwohnergemeinde), sondern auch eine Personalgemeinde. Eine solche «Burgergemeinde», «Bürgergemeinde», «Ortsbürgergemeinde» oder «Korporationsgemeinde» besitzt als Erbin der früheren Allmenden meist immer noch Boden, Wald und Immobilien vor Ort. Ihren soziologischen Kern bilden die alten Familien, die bereits im Ancien Régime als voll Heimatberechtigte über politische und ökonomische Privilegien verfügten. Weil sich diese Körperschaften damit letztlich historisch konstituieren, besitzen sie eine Affinität zur Geschichte. Davon zeugen die zahlreichen historischen Selbstdarstellungen, die allerdings lange Zeit einseitig aus der Binnenperspektive verfasst wurden und hauptsächlich der Sinnstiftung nach innen und der Legitimierung nach aussen dienten. Seit rund einem Jahrzehnt erfolgt eine Öffnung hin zur kritischen Geschichtswissenschaft, so mit Untersuchungen zur Burgergemeinde Bern oder zu den Korporationen Pfäffikon und Uri. In dieser Linie steht die vorliegende Publikation, die von der Ortsbürgergemeinde St. Gallen herausgegeben wurde.

Was sind Bürgergemeinden eigentlich – und worin unterscheiden sie sich von Politischen Gemeinden? Warum und wie sind diese beiden Gemeindeformen entstanden? Und wie hat sich die Ortsbürgergemeinde St. Gallen seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert bis heute verändert? Das Historikerteam unter der Leitung von Dorothee Guggenheimer beantwortet diese auf dem Klappentext formulierten Fragen in neun Kapiteln, die in chronologischer Reihenfolge bis in die Gegenwart reichen.

In ihrer konzisen Überblicksdarstellung zur Stadtrepublik St. Gallen im Mittelalter und in der Früher Neuzeit stellen Stefan Sonderegger und Dorothee Guggenheimer die Trennung von Stadt und Kloster, die Installierung der Zunftherrschaft und die Exportorientierung der Textilwirtschaft in den Vordergrund; weniger in den Blick gelangen dagegen die kollektiven Wälder und Felder als Gemeingut der Bürgerschaft (Kap. 1). Die lange Transformationsphase von 1798 bis 1880 beleuchtet Marcel Mayer in drei Kapiteln. Ausgangspunkt ist die Helvetik mit ihrem Grundkonflikt zwischen der postulierten Gleichheit der Bürger einerseits und der Garantie des Eigentums andererseits. Als Kompromisslösung schuf man zum einen die von allen niedergelassenen Schweizer Bürgern gewählte «Munizipalität», aus der heraus sich die Einwohnergemeinde entwickelte, zum anderen eine erste Form der Ortsbürgergemeinde, gebildet aus den Anteilhabern am Gemeindegut (Kap. 2). Endgültig getrennt wurden die beiden Gemeinden mit der Ausscheidungsurkunde von 1832, welche die Vermögenswerte benannte, die im Eigentum der Ortsbürger verblieben. Der Einschätzung des Verfassers zufolge war es «auffallend viel, was die alten Bürgergeschlechter weiterhin als kollektiven Besitz beanspruchten» (S. 52). Namentlich zählten dazu das Säckelamt, das Bauamt mit seinen Gebäuden, die Allmenden in der Stadt und die sogenannten «Gemeindsböden» mit ihren öffentlichen Gebäuden, die alten Leinwandbleichfelder sowie die Wälder und Steinbrüche (Kap. 3). Neben der Armenfürsorge – mit Bürgerspital, Waisenhaus sowie offener Unterstützung armengenössiger Bürger und Bürgerinnen – zählte nun zunehmend auch die Kulturförderung zu den ortsbürgerlichen Hauptaufgaben: So wurde die Ortsbürgergemeinde Trägerin eines Archivs, einer Bibliothek und eines Museums. Ihren Grundbesitz machte die Ortsgemeinde zum einen mittels Verpachtungen zu Geld, zuerst in Form von Kleinparzellen als Selbstversorgungs- Gärten, später vermehrt als arrondierte Landwirtschaftsflächen. Zum anderen verkaufte sie zahlreiche Bauparzellen für die wachsende Stadt, sowohl für private Wohn- und Gewerbehäuser als auch für öffentliche Infrastrukturbauten (Kap. 4).

Die Weiterentwicklung der Ortsbürgergemeinde von 1880 bis 1980 rekonstruiert Max Lemmenmeier in drei Teilphasen. In der Grossen Zeit des Bauens (1880–1919) war die Ortsbürgergemeinde mit ihrer Wirtschafts- und Bodenpolitik durch Überbauungspläne und Landverkäufe ein aktiver Motor der Stadtentwicklung. Die Verbesserung der Bilanzen nach Abschaffung des Bürgernutzens und die steigenden Erträge aus dem Grundbesitz ermöglichten einen jahrzehntelangen Ausbau der sozialen und kulturellen Leistungen der Ortsbürgergemeinde (Kap. 5). Demgegenüber ging es der Ortsbürgergemeinde in den Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs (1919–1950) angesichts fehlender Bodenverkäufe, verminderter Erträge und gestiegener Ausgaben vor allem um die Sanierung ihrer eigenen Finanzen; die Autonomie im Fürsorgewesen bewahrte sie mit der Einführung einer Armensteuer (Kap. 6). Es folgten Wirtschaftlicher Aufschwung und neue Probleme (1950–1980), namentlich die wieder vermehrten Bodenverkäufe einerseits und die wachstumskritische, auf die Erhaltung des «Grünen Rings» ausgerichtete Bodenpolitik andererseits, was angesichts der wachsenden Stadtbevölkerung zu Konflikten mit der Politischen Gemeinde führte (Kap. 7).

In zwei abschliessenden Kapiteln fragt der amtierende Bürgerratspräsident Arno Noger nach den aktuellen Entwicklungen der Ortsbürgergemeinde und den Herausforderungen, vor die sie sich gestellt sieht. Im Zentrum steht für ihn die Frage nach ihrem unternehmerischen Handlungsspielraum, den die Institution unbedingt brauche, um mit den positiven Unternehmenserfolgen (Gesundheit und Alter, Forstbetrieb, Stadtsäge, Liegenschaften) die Kulturinstitutionen (Stadtarchiv, Vadianische Sammlung) und die Zentrale Verwaltung (Corporate Center) zu finanzieren. Insgesamt zeichnet der Verfasser für die Ortsbürgergemeinde ein Bild, das einer modernen Unternehmensgruppe ähnlicher ist als einer traditionellen Gemeinde (Kap. 8, 9).

Das konsequent chronologische Gliederungsprinzip des Bandes bewährt sich in erster Linie in didaktischer Hinsicht. Zusammen mit dem gut gewählten Schlüsselbild, das zu Beginn jeden Kapitels dessen Essenz prägnant visualisiert, ergibt sich eine Folge von klar unterscheidbaren Zeitabschnitten, die insgesamt einen kontinuierlichen Erzählstrang ergeben. Was dabei etwas zu kurz kommt, sind vertiefte Einsichten in grundlegende, phasenübergreifende Themen und Prozesse in der Geschichte der Ortsgemeinde. So möchte man gerne noch Genaueres wissen über die Kontinuitäten und Brüche im politischen Personal während des sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden Aufteilungsprozesses der alten Stadtrepublik in Kanton, Einwohnergemeinde und Ortsbürgergemeinde. Oder über den Habitus der Ortsbürger, mit dem sich diese als soziale Gruppe von anderen Stadtbewohnern unterscheiden. Schliesslich auch über die Transformation des kollektiven Grundbesitzes, dessen Bewirtschaftungsziel sich im Laufe der Zeit von der Naturalversorgung auf den kontinuierlichen Finanzertrag (Rendite) verlagerte. Erst auf der Grundlage solcher über die Chronologie hinausgehenden Analysen wäre die Geschichte der Ortsbürgergemeinde St. Gallen der historischen Entwicklung anderer Körperschaften – etwa in Bern, Biel, Chur, Sion, Solothurn oder Zug – vergleichend gegenüberzustellen.

Diese Kritikpunkte sollen die Verdienste der Publikation aber nicht schmälern. Das vom Bürgerrat formulierte Ziel der Zugänglichkeit für ein breites Publikum erreicht das Buch nicht nur mit gehaltvollen und sorgfältig redigierten Texten, die auch kritische Sichtweisen auf die behandelte Institution zulassen, sondern auch mit dem reichen historischen Bildmaterial und der vielfältigen und grosszügigen Gestaltung.

Zitierweise:
Stuber, Martin: Ortsbürgergemeinde St. Gallen (Hg.): Die Ortsbürgergemeinde St. Gallen, St. Gallen: VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 323-325.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 323-325.

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