O. Meskina: Lebensbedingungen von Frauen und Kindern um die Wende zum 20. Jahrhundert

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Titel
Lebensbedingungen von Frauen und Kindern um die Wende zum 20. Jahrhundert. Untersucht am Beispiel der Schweiz (Kantone Basel) und Russlands (Region Woronesch)


Autor(en)
Meskina, Olesya
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Peter Lang/Frankfurt am Main
von
Helena Kanyar Becker

Die Autorin vergleicht die geschlechtsspezifische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau sowie die Schwierigkeiten des Frauen- und Kinderlebens in zwei geographisch entfernten, politisch, wirtschaftlich und soziologisch disparaten Gesellschaftsstrukturen. Im ersten Teil ihrer Dissertation untersucht sie die Stellung der Frauen und Kinder im russischen Gouvernement Woronesch, im zweiten Teil konzentriert sie sich auf das gleiche Thema in beiden Basler Halbkantonen.

Die Stadt Woronesch liegt etwa 600 Kilometer südöstlich von Moskau, im Zentrum des Schwarzerde-Gebiets. Die Autorin analysiert die Lebensbedingungen der dortigen Landbevölkerung nach der Bauernbefreiung von 1861 bis zum Ersten Weltkrieg. Das Dorfleben wurde von der Gemeinde-Selbstverwaltung, der sogenannten Obschina oder Mir, bestimmt. Die konservativen, oft analphabetischen Bauern lebten nach den traditionellen Regeln des Domostroj, der Hausordnung aus dem 16. Jahrhundert. Frauen undKinder wurden von den Männern bevormundet, vor allem als Arbeitskräfte betrachtet, durften ohne Erlaubnis das Haus nicht verlassen, Gewalt, gepaart mit Alkoholkonsum, gehörte zum Alltag. Die Frauen arbeiteten vom Frühling bis zum Herbst oft ab drei Uhr morgens bis Mitternacht im Haushalt und auf den Feldern. Im Winter verarbeiteten sie unter anderem Flachs und Wolle, um Bekleidung für die Familie herzustellen. Da sie durchschnittlich acht bis neun Kinder hatten, waren die Lebenserwartungen der erschöpften Frauen niedrig, oft starben sie im Kindbett. Aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen und der unzureichenden Ernährung war auch die Kindersterblichkeit extrem hoch. Nach den Berichten der Ärztegesellschaften starben 1876–1895 etwa 36% aller Säuglinge, in einigen Dorfgemeinden erreichten 35% der Kinder ihr vierzehntes Lebensjahr nicht, in anderen Siedlungen starben 68% der Jugendlichen bevor sie achtzehn wurden. Die Dorfbevölkerung lebte zumeist in grosser Armut, die Kinder konnten während der kalten Jahreszeit kaum die Häuser verlassen, weil sie keine warmen Kleider und Schuhe besassen. Oft wurden sie zur Arbeit in die Städte statt in die Schule geschickt.

Während der Hungersnöte 1891–1893 und 1905–1906 richtete die Verwaltung in Woronesch in den ländlichen Gebieten öffentliche Kantinen für Kinder bis zum fünfzehnten Lebensjahr ein. Ab 1894 wurden Waisenhäuser und Kinderpflegeheime gegründet. Dank privater Initiativen entstanden Sommerkrippen für Bauernkinder, wo sie betreut wurden, während die Mütter die Feldarbeit verrichteten. Die Autorin liefert Statistikzahlen und schildert detailreich und mit grosser Empathie die schwierigen Lebensbedingungen von gross- und kleinrussischen (ukrainischen) Frauen und Kindern.

In Russland lebten 90% der Bevölkerung auf dem Lande, wogegen die Landbevölkerung in der Schweiz während der Industrialisierung zunehmend in die Städte migrierte. Die Landflucht verstärkte sich noch im Zuge der Agrarkrise der 1870er bis 1890er Jahre, sodass bis 1900 nur noch 31% der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Die Bäuerinnen blieben ans Haus gebunden, sorgten für Haushalt und Garten und die Milchwirtschaft. Sie waren für den Anbau von Flachs und Hanf sowie für die Schafzucht verantwortlich, im Winter verarbeiteten sie die selbsterzeugten Materialien zu Bekleidung. Die Frauen in Baselland waren auch mit der Posamenten-Herstellung beschäftigt, bei allen Arbeiten mussten die Kinder helfen.

Da die männliche Vormundschaft über die Frauen in den Kantonen Basel in den 1870er Jahren offiziell aufgehoben wurde und auch das Zivilgesetzbuch von 1912 keine eheliche Vormundschaft mehr vorsah, konnten junge Frauen in der Stadt nach Arbeitsmöglichkeiten suchen. Meist fanden sie Anstellungen als Dienstmädchen oder in Fabriken, aber auch als Wäscherinnen, Glätterinnen, Näherinnen. Putzmacherinnen oder im Lebensmittelhandel. Meist verdienten die Frauen für die gleiche Arbeit weniger als die Männer, die Kinder wurden noch wesentlich schlechter bezahlt. Die Arbeiterfamilien lebten in grosser Armut, was die Frauen zwang, nach einer Geburt möglichst schnell wieder die Arbeit aufzunehmen. Ihre Kinder mussten sie in Pflege geben. Die meisten Pflegefamilien waren jedoch so arm, dass die aufgenommenen Kinder unterernährt und krank waren, oft starben sie. Da die unschuldigen Kinder nach dem Volksglauben als kleine Engel in den Himmel kamen, wurde solch zweifelhafte Pflege «Engelmacherei» genannt. Weil der Staat daran interessiert war, die Kindersterblichkeit zu verhindern, beteiligte er sich finanziell an den Pflegekosten.

Besonders schwierig war die Situation der ledigen Mütter. In der Stadt Basel war ihr «unsittliches Benehmen» strafbar, auf dem Lande wurden sie verachtet, jedoch geduldet. Ihre Kinder erwartete oft das bittere Los der sogenannten Verdingkinder. Die ab den 1870er Jahren aktiven Frauenvereine thematisierten das Problem der Kinderarbeit und den Kinderschutz. Sie halfen auch jungen Frauen, die nach ihrer Ankunft in die Stadt zur Prostitution gezwungen wurden. Weiterhin unterstützten sie die Frauenbildung und engagierten sich in der Armenpflege.

Die beiden Basler Halbkantone eröffneten in den 1890er Jahren Haushaltungs- und Landwirtschaftsschulen für junge Frauen. Die regionale Verwaltung in Woronesch begann ebenfalls für die Kinder- und Jugendbildung zu sorgen. Die Lebensbedingungen von russischen Frauen wurden schon in den zeitgenössischen Berichten als unwürdig bezeichnet. Die dortige Landbevölkerung blieb in der feudalen Tradition verankert, während die Bevölkerung in der Schweiz am Industrialisierungsprozess teilnahm. Die Autorin wertete für ihre Studie zahlreiche russische und schweizerische Quellen und Sekundärliteratur aus, um eine kontrastreiche Darstellung der Lebensbedingungen in einer ost- und mitteleuropäischen Region vorlegen zu können.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Olesya Meskina: Lebensbedingungen von Frauen und Kindern um die Wende zum 20. Jahrhundert. Untersucht am Beispiel der Schweiz (Kantone Basel) und Russlands (Region Woronesch), Frankfurt am Main: Peter Lang, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 189-190.