W. Seitz: Auf die Wartebank geschoben

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Titel
Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900


Autor(en)
Seitz, Werner
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
CHF 38.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Brigitte Studer, Historisches Institut, Universität Bern

Das mediale und öffentliche Interesse setzte bereits lange vor dem 7. Februar 2021 ein, und auch die Wissenschaft, das Museumswesen und die Publizistik hatten sich auf das Datum vorbereitet: Während der vierzigste Jahrestag der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz publizistisch-wissenschaftlich noch nahezu unbemerkt blieb1, hat das fünfzigjährige «Jubiläum» dagegen zu einem wahren Boom an Medienbeiträgen, Ausstellungen, öffentlichen Vorträgen und Buchpublikationen aller Art geführt, wobei nicht alle einen wissenschaftlichen Anspruch haben oder ihm gerecht werden.2 Die öffentliche Aufmerksamkeit hat vor allem eines bewirkt: Die bislang immer noch im Kurs stehende nationale Erzählung von der Schweiz als der «ältesten» und «perfektesten» Demokratie der Welt hat eindeutig Risse bekommen. Die Debatten und Beiträge haben nämlich gezeigt, dass hinter der demokratiepolitischen «Verspätung» behördlicher Unwille, parlamentarische Bremsmanöver und männliche Machtansprüche standen. Die weiblichen Forderungen wurden über ein Jahrhundert lang überhört, Petitionen schubladisiert, ja das Anliegen und seine Trägerinnen regelmässig lächerlich gemacht. Die Erklärung, dass es an der direkten Demokratie gelegen habe, erweist sich bei genauem Hinsehen als bequemer Vorwand, denn sowohl der Bundesrat als auch das Bundesgericht haben sämtliche von den Befürworterinnen und Befürwortern des Frauenstimmrechts eingebrachten alternativen Wege salopp vom Tisch gewischt, obschon eine zunehmende Anzahl Juristinnen und Juristen diese als mit der Bundesverfassung kompatibel erachteten. Zu den im engeren Sinne wissenschaftlichen Neuerscheinungen, die dies thematisieren, gehört die Studie von Werner Seitz. Akribisch trägt sie Fakten zur Geschichte des Frauenstimmrechts und zur späteren politischen Partizipation und Repräsentation der Frauen in der Schweiz bis zum Jahr 2019 zusammen.

Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Der Autor setzt einleitend mit einem Rückblick ins Ancien Regime ein, in dem er der Frage nachgeht, wie und weshalb das weibliche Geschlecht in der Aufklärung, der Französischen Revolution und schließlich in der modernen bürgerlichen Schweiz aus der Politik ausgeschlossen wurde. Auf knappem Raum skizziert er aus ideengeschichtlicher Perspektive wichtige Stellungnahmen für und gegen die weibliche Unmündigkeit insbesondere in Frankreich und England und anschließend mit Bezug auf die Schweiz die Prägung der politischen Kultur durch «republikanische Männlichkeit». Sodann zeigt der Autor die Entwicklung des Stimm- und Wahlrechts im Übergang von der alten zur modernen Eidgenossenschaft auf, allerdings ohne auf die Problematik einzugehen, ob, wie und in welchem Mengenverhältnis sich Liberalismus und Republikanismus 1848 verschränkten.

In Teil II, dem ausführlichsten der Studie, stellt Werner Seitz die lange Geschichte des Kampfs um die Einführung des Frauenstimmrechts auf der Basis der (deutschsprachigen) Forschungsliteratur dar. Er nimmt dazu eine Periodisierung in vier Phasen vor. Auf die lange Phase des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung der Schweizer Frauenverbände und der Emergenz der Stimmrechtsforderung bis zum Jahr 1918 folgt als zweites die Zwischenkriegszeit und Kriegszeit bis 1944. Die Jahre bis 1959 betrachtet der Autor dann unter der Perspektive des «gleichstellungspolitischen Sonderfalls». In der vierten Phase bis 1972 verfolgt er das allmähliche Schwinden des Widerstands gegen das Frauenstimmrecht bis zum Durchbruch auf nationaler Ebene 1971 und dem anschließenden rapiden Nachholen auf kantonaler Ebene – mit den bekannten Ausnahmen der beiden Appenzeller Kantone. Wie bei jeder Periodisierung kommt es auf die Gewichtung einzelner Kriterien an. In Seitz’ in sich durchaus kohärenter Periodisierung stehen die institutionellen Wandlungen im Vordergrund. Würde stattdessen oder zusätzlich auf die politischen Möglichkeitsfenster und die Hoffnungsmomente der Stimmrechtsaktivistinnen abgestellt, hätte sich eine andere Periodisierung aufgedrängt, beispielsweise hätten auch die beiden kurzen Nachkriegsperioden, als das internationale Kontingent der fraueninklusiven Demokratien rapide wuchs und Frauenrechte unter der Ägide des Völkerbunds und der UNO Aufnahme in den Kanon internationaler Normen fanden, Berücksichtigung finden müssen.

Teil III rekonstruiert die Entwicklung der weiblichen Repräsentation in den politischen Institutionen nach dem Durchbruch von 1971. Hier zeigt sich gewinnbringend die langjährige Beschäftigung des Autors mit politischen Daten als Sektionsleiter im Bundesamt für Statistik. Dargestellt werden sowohl die nationale als auch die kantonale Ebene, die Exekutive und die Legislative. Die Makroperspektive vermag ein erkenntnisreiches Bild der Fortschritte und des zeitweisen Stillstands, der Schwierigkeiten und Hürden des weiblichen Zugangs zu den politischen Gremien zu vermitteln. Besonders resistent zeigten sich lange die im Vergleich zum Nationalrat und zu den Kantonsparlamenten prestigereicheren Institutionen des Ständerats sowie der eidgenössischen und kantonalen Regierungen. Alimentiert wird dieser Teil zudem durch detaillierte Angaben des politischen Geschehens. Zur Sprache kommen die prägnanten Ereignisse, die parlamentarischen Interventionen, die eingereichten Initiativen und die Positionen der Parteien zur Erhöhung der Frauenvertretung. Nicht zuletzt wird der Effekt der politischen Mobilisierung der Frauenbewegung und Frauenverbände auf den Wandel der Minderheits- und Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten evaluiert.

Teil IV befasst sich mit ausgewählten Volksabstimmungen über gleichstellungspolitisch relevante Themen nach 1971. Neben Abstimmungen zu institutionellen Gleichstellungsfragen wie der Einschreibung von gleichen Rechten in die Bundesverfassung, dem neuen Eherecht und der Implementierung von Quoten in den Bundesbehörden, behandelt Seitz auch die Genese und den Verlauf der Volksabstimmungen über den Schwangerschaftsabbruch und die Mutterschaftsversicherung, die dank der Neuen Frauenbewegung (wieder) auf der politischen Agenda Platz fanden. Im Anschluss daran werden die regionalen Zuordnungsmuster bei diesen Abstimmungen analysiert.

Solche und weitere aggregierte Datenanalysen machen dieses Buch für Gleichstellungsinteressierte und für Lernende und Lehrende der Schweizer Geschichte und Politik besonders wertvoll. Die Darstellung wird zudem durchgehend mit Tabellen und Graphiken zu den zahlreichen Abstimmungsergebnissen zur Gleichberechtigungspolitik und zu den verschiedenen Wahlresultaten auf nationaler und kantonaler Ebene belegt. Darüber hinaus findet sich im reichhaltigen Anhang weiteres detailliertes Zahlenmaterial. Aufgeschlüsselt werden etwa die geschlechtsspezifische Mandatsverteilung in Kantonen und im Bund nach Parteien im Wandel über die Zeit, der prozentuale Anteil gewählter Frauen nach Sprachregionen, die Entwicklung der Wahlresultate der feministischen Frauenlisten. Geht in den historischen Teilen der Anspruch auf ereignisgeschichtliche Vollständigkeit etwas zu Lasten der Interpretation, so stellt diese Synthese von zwei Jahrhunderten Kampf um Gleichstellung in der Schweiz für jede wissenschaftliche Arbeit gleichwohl ein unverzichtbares Grundlagenwerk dar.

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme hierzu bildet der dreisprachige Dokumentarfilm «De la cuisine au parlement/Von der Küche ins Parlament» von Regisseur Stéphane Goël, der den Weg zum Frauenstimmrecht anhand von Archivmaterial, Zeugenaussagen von Aktivistinnen sowie einer historischen Expertin erzählt. Zum Jahrestag 2021 ist er bis in die jüngste Gegenwart und auf 90 Minuten erweitert worden, https://climage.ch/films/de-la-cuisine-au-parlement-edition-2021/ (14.06.2021).
2 Der Band von Isabel Rohner / Irène Schäppi (Hrsg.), 50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung, Zürich 2020, versammelt ohne klares Erkenntnisinteresse 25 Porträts von Frauen (inklusive je eines der beiden Herausgeberinnen selbst), die gemäss Vorwort «bekannt und einflussreich» (S. 10) sind. Zu den diversen Essays von Historikerinnen, Kulturschaffenden und Journalistinnen mit Reflexionen über die Geschlechterordnung heute gehören z.B. Rita Jost / Heidi Kronenberg / Nora Ryser (Hrsg.), Gruss aus der Küche. Texte zum Frauenstimmrecht, Zürich 2020; aus wissenschaftlicher Perspektive das Kollektivwerk zu den Jahrzehnten nach 1971 von Denise Schmid (Hrsg.), Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971–2021, Zürich 2020; aus biographischer Perspektive Franziska Rogger, «Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten!». Die Ursprünge der Schweizer Frauenbewegung und ihre Pionierin Julie Ryff (1831–1908), Basel 2021. Vgl. auch die kurze Synthese von Brigitte Studer, La conquête d’un droit. Le suffrage féminin en Suisse (1848–1971), Neuchâtel 2020, sowie als historisch-juristische Studie demnächst Brigitte Studer / Judith Wyttenbach, Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848–1971, Zürich (im Druck); zum Tessin: Susanna Castelletti / Marika Congestrì (Hrsg.), Finalmente Cittadine! La conquista dei diritti delle donne in Ticino 1969–1971, Massagno 2021. Einblicke vermitteln auch die Ausstellungskataloge Schweizerisches Nationalmuseum (Hrsg.), Frauen.Rechte, von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Zürich 2021, sowie 60 ans seulement ! L’histoire du suffrage féminin genevois en affiches, avec des textes de Sonia Vernhes Rappaz et Irène Herrmann, Genf 2020.

Redaktion
Veröffentlicht am
13.07.2021
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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