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Titel
Pflegekinder. Die Deutschschweizer Armenerziehungsvereine 1848–1965


Autor(en)
Guggisberg, Ernst
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
544 S.
von
Miriam Baumeister

Ernst Guggisberg legt eine auf penible Quellenarbeit aufbauende, umfangreiche Geschichte der Deutschschweizer Armenerziehungsvereine vor. Die Analyse dieser privaten Fürsorgeakteure schliesst eine Lücke in der Wohlfahrtsgeschichte und legt ein solides Fundament für weitere Arbeiten. Das rund 500 Seiten Text umfassende Werk beinhaltet neben der Analyse der organisatorischen Struktur dieser «Armenerziehungsvereine» in vier Kantonen auch die Darstellung ihrer Arbeitsweise sowie Tabellen und Kartenmaterial. Ein Schwerpunkt liegt auf der Platzierung von Pflegekindern durch die Vereine.

Guggisbergs Erkenntnisinteresse ist, die Funktionsweise der Armenerziehungsvereine und ihren Stellenwert in der regionalen und kantonalen Fremdplatzierungslandschaft zu ergründen. Dabei geht er auch der Frage nach, ob Fremdplatzierung per definitionem eine «schlechtere Kindheit» als das Aufwachsen in der leiblichen Familie bedeutete. Er teilt die bearbeiteten Fragestellungen in eine «makroperspektivische Ebene» (Einordnung der Vereine im gesamtschweizerischen und kantonalen Kontext und Profilierung der Vereinskonzepte) und eine «mikroperspektivische Ebene» (Phasenablauf der Fremdplatzierung) ein (S. 26–27). Der von ihm verwendete Pflegekind-Begriff bezieht sich, unabhängig von der Art der Platzierung sowie der sonst üblichen Unterscheidung zwischen Kindheit und Jugendalter, auf die Altersspanne von Geburt bis zum vollendeten 16. Lebensjahr (S. 19).

Der Autor gliedert den Text in fünf Kapitel, wobei sich sein Untersuchungszeitraum von der Gründung des ältesten Armenerziehungsvereins im Kanton Basel-Landschaft 1848 bis zu dessen Reorganisation 1965 erstreckt (S. 18). Der Autor kontextualisiert die Armenerziehungsvereine zuerst mit einer Überblicksdarstellung der Formen der institutionalisierten Fremdplatzierung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Anschliessend behandelt er die grundsätzliche Struktur und Geschichte der Deutschschweizer Armenerziehungsvereine besonders in Hinblick auf ihre Erziehungsvorstellungen und wie diese durch die Fremdplatzierung gewährleistet werden sollten. Im darauffolgenden Kapitel wird der Umgang der vier Kantonalvereine mit je einem bestimmten Thema analysiert: die Legitimation der Vereinsarbeit des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins, die Ressourcenbeschaffung des Aargauischen Armenziehungsvereins, der religiöse Erziehungsaspekt des Thurgauischen Armenerziehungsvereins und die Identitätsfindung des Solothurnischen Armenerziehungsvereins. Im nächsten, zentralen Kapitel werden die Stationen der Fremdplatzierung eines Kindes aus Sicht der Vereinsvorstände Schritt für Schritt beschrieben. Der letzte Teil befasst sich mit der Eigen- und Fremdwahrnehmung der Vereine.

Der Quellenkorpus der Arbeit umfasst vornehmlich die in grossem Umfang überlieferten Vereinsarchive sowie Privatarchive einzelner Vorstandsmitglieder. Diese werden sowohl in den Staatsarchiven als auch bei den Rechtsnachfolgern selbst aufbewahrt. Guggisberg, im Haupterwerb Archivar, hat eine grosse Zusatzleistung erbracht, indem er zahlreiche Bestände erst zugänglich gemacht und erschlossen hat. Ausserdem hat er Jahresberichte und Statuten zahlreicher Armenerziehungsvereine aus dem Bestand der Schweizerischen Nationalbibliothek konsultiert.

Seine methodische Grundlage ist die Inhaltsanalyse nach Mayring. Gestützt auf dessen Phasenmodell, schliesst Guggisberg der Hermeneutik und Analyse der Quellen eine Phase der Explikation durch «vitalstatistische Daten» (Sokoll) an (S. 47–48). Dabei liefern ihm die aggregierten Daten aus den Jahresberichten der vier Armenerziehungsvereine sowie fünf Datensammlungen der Kantone und Bezirke umfangreiches Zahlenmaterial zur Gegenüberstellung (S. 49). Diese Verbindung von qualitativer und quantitativer Analyse ist, wenn dadurch die Arbeit auch auszuufern droht, ein Alleinstellungsmerkmal von Guggisbergs Arbeit.

Der Autor ordnet die Armenerziehungsvereine in den Kontext der Sozietätenbildung im 19. Jahrhundert ein und thematisiert ihre Rationalisierung im Zusammenhang mit der Genese der Formen von Fremdplatzierung. Guggisberg stützt sich dabei auf zeitgenössische Überblickswerke, denen er 1314 Institutionen entnimmt und diese in den Stichjahren 1850, 1890 und 1930 unter quantitativen, geografischen und typologischen Gesichtspunkten vergleicht. Er analysiert ausführlich die Statuten und Organisationsstrukturen der vier Armenerziehungsvereine, die ihren Arbeitsschwerpunkt und grosse Teile ihrer Legitimation aus ihrem Verständnis einer «geeigneten Erziehung» und deren Herbeiführung durch entsprechende Fremdplatzierung ableiteten. Im Verlauf der Arbeit beleuchtet Guggisberg neben dieser Innenperspektive auch die Aussensicht auf die Vereine und widmet dem Verhältnis der beiden Wahrnehmungen das Ende des Hauptteils.

Im Kapitel zu den Profilen der Armenerziehungsvereine im kantonalen Kontext kommt die oben genannte Betrachtung der verschiedenen Vereine unter selektiven Gesichtspunkten zum Tragen. Dies ist sowohl mit Blick auf den Umfang des Textes als auch wissenschaftlich richtig. Möchte man allerdings genaue Informationen zu einem spezifischen Kanton finden, so sucht man die klassische Institutionengeschichte an dieser Stelle vergeblich. Gerade anhand statistischer Daten, wie zum Beispiel bei der Gegenüberstellung der Kostgelder, lassen sich die verschiedenen Vereine aber durchaus in sinnvolleBeziehung zueinander setzen und vergleichen.

Den wertvollen Schwerpunkt des Werkes bietet der Teil zu den Stationen der Fremdplatzierung, die Guggisberg Schritt für Schritt in Unterkapiteln nachzeichnet. Er beschreibt aufschlussreich und lebendig die Handlungsweisen und -spielräume sowie die relevanten Rollen im Prozess der vereinsbasierten Fremdplatzierung. Neu und sehr einleuchtend ist die explizite Einordnung der Berufsausbildung als eigenständige Platzierungsstation, die somit nicht an den Platzierungsprozess anschliessend, sondern als integraler Bestandteil davon verstanden wird.

Es ist augenfällig, dass sowohl die Darstellung der Struktur und Organisation der Armenerziehungsvereine im Kontext der Forschung zu Armut und Fürsorge als auch die detaillierte Aufarbeitung der Fremdplatzierungspraxis für sich bereits ordentliche Dissertationen abgegeben hätten. Es ist aber Guggisberg als Leistung anzurechnen, dass er diese beiden Dimensionen zusammengebracht und so eine umfangreiche, detaillierte und dennoch angenehm lesbare Arbeit vorgelegt hat. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Diskussion über die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Zitierweise:
Miriam Baumeister: Ernst Guggisberg: Pflegekinder. Die Deutschschweizer Armenerziehungsvereine 1848–1965, Baden: Hier und Jetzt, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 186-187.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 186-187.

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