R. Graber: Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz

Titel
Demokratie und Revolten. Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz


Autor(en)
Graber, Rolf
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
EUR 36.00
URL
von
Martin Schaffner

Die direkte Demokratie der Schweiz, Wahrzeichen nationaler Eigenheit schlechthin, ist in der Wirklichkeit der innenpolitischen Auseinandersetzungen umstrittener, als man erwarten könnte. So wird häufig und heftig über den «Missbrauch der Volksrechte» gestritten, wobei die Grenze zwischen dem «vernünftigen» und dem «missbräuchlichen» Einsatz von Initiative und Referendum prinzipiell unbestimmt bleibt. Auch dass über die Reichweite der Volkssouveränität schweizerischer Ausprägung kein Konsens besteht, wie die Debatten über die sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative» zeigten, ist ein Indiz für tief sitzende Divergenzen im Demokratieverständnis der Bürgerinnen und Bürger. Doch anders, als manche glauben, sind diese Ambivalenzen keineswegs das Produkt aktueller Konstellationen, sondern in der Entstehungsgeschichte der direkten Demokratie angelegt, wie Rolf Grabers neues Buch deutlich macht.

R. Graber legt seiner Darstellung fünf Aspekte zugrunde (S. 10 f.): die ausgedehnte Gemeindeautonomie, das heisst «genossenschaftlich-kommunalistische Partizipationsmodelle», die Landsgemeinde als «politisches Referenzmodell», die spätmittelalterliche Befreiungs- und Widerstandstradition, die Konstituierung der Demokratiebewegungen des 19. Jahrhunderts als «Protestbewegungen» und schliesslich die Auswirkungen der Französischen Revolution. R. Graber will Demokratiegeschichte als «Protestgeschichte» schreiben (S. 11), ihre «rebellische Dynamik» erfassen, einen «alternativen geschichtlichen Grundstrom» herausarbeiten, der «für die Herausbildung der Volksrechte von zentraler Bedeutung ist» (S. 13). «Zentraler Orientierungspunkt» dieses Programms ist die «agency» der Bevölkerungsgruppen, die auf der Verliererseite der wirtschaftlichen Modernisierung stehen und sich als «plebejische Protestbewegung» konstituieren (S. 12). Ihnen sei es zu verdanken, dass «die Schweiz zum Experimentierfeld für direktdemokratische Partizipationsformen» geworden sei (S. 12). Damit ist ein Projekt von grosser Kohärenz entworfen, das der inneren Logik der schweizerischen direkten Demokratie angemessener ist als die noch immer an Vorstellungen von Kontinuität und liberalem Fortschritt orientierten Deutungsmuster.

R. Graber beginnt seine Darstellung mit einem Kapitel über die «Politisierungsprozesse vor und nach der Französischen Revolution» (S. 21ff.). Am Beispiel von Zürich verfolgt er, wie sich der Republikanismus klassischen Zuschnitts dynamisierte und radikalisierte. Zwei rivalisierende Souveränitätskonzepte bildeten sich heraus, von denen das eine einem oligarchischen Herrschaftsverständnis, das andere republikanisch-kommunalistischen Auffassungen entsprach. Entscheidend ist, dass sich naturrechtliche Argumentationsmuster in der Landbevölkerung verbreiteten. Diese verbanden sich – wie zum Beispiel im «Stäfner Handel» (1795) – mit Vorstellungen von überkommener Gemeindefreiheit. Die Verbindung unterschiedlicher Souveränitätskonzepte vollzog sich mithilfe des imaginären Modells der Landsgemeinde, in dem sich traditionale und moderne Auffassungen von Freiheit gleichermassen unterbringen liessen. Allerdings war damit der Gegensatz zwischen einem Verständnis von Freiheit einerseits als Privileg und andererseits als Grundrecht nicht aufgehoben, wie sich in der Demokratiegeschichte der Schweiz bis heute zeigt. Ein ebenso informativer wie anregender Abschnitt ist der «Dynamisierung des Geschlechterdiskurses von unten» gewidmet (S. 48 ff.). Denn es waren nicht zuletzt die sich mobilisierenden Frauen, die im Kontext der Protoindustrialisierung unüberhörbar «soziale Umverteilungsambitionen» artikulierten (S. 52).

R. Graber fächert das «breite Repertoire von Protest- und Widerstandsbewegungen» (S. 77) auf, die sich während der Restauration, der Regeneration und dann im Protest gegen die liberale Modernisierungspolitik manifestierten. Sie, so der Autor, müssten als die eigentlichen Akteure der Demokratiegeschichte gelten. Denn sie hätten die Erfahrung sozialer Ungleichheit artikuliert und es geschafft, «radikal-demokratische Forderungen mit kirchen-, kommunal- und lokalpolitischen Anliegen zu verbinden» (S. 107). Der Autor rekonstruiert das Profil dieser Bewegungen, zeichnet die Porträts ihrer Anführer und beschreibt die Performativität und Symbolik ihrer Aktionsformen. Um 1840 transformierten sich auch die Landsgemeinden in Kantonen wie Glarus und Schwyz, wo die Landsgemeindeverfassungen jetzt naturrechtlich abgestützt wurden. Gleichzeitig verbreiteten sich in den kleinbürgerlichen und proletarischen Schichten der Westschweiz frühsozialistische Ideen.

Ein umfangreiches Kapitel befasst sich mit der demokratischen Bewegung, die in den Kantonen Zürich, Thurgau, Baselland, Aargau, Bern und Solothurn Verfassungsrevisionen durchsetzte. R. Graber folgt weitgehend bisherigen Darstellungen, setzt aber deutlich eigene Akzente. So hebt er die Bedeutung von Medien und Kommunikation hervor oder die oft übersehene Mobilisierung der Frauen. In der Verschränkung von politischen und sozialen Anliegen (wie z. B. im «Frauenfelder Programm» von 1868) wird der innere Zusammenhang der einzelnen Bewegungen ebenso sichtbar wie in ihren Verläufen und demokratiepolitischen Erfolgen. Dank einzelnen «mikroanalytisch-lokalhistorischen Zugriffen» Grabers kommen dennoch wichtige kantonsspezifische Eigenheiten zur Geltung (z.B. in den Ausführungen zum Aargau, S. 159 f.).

Im Schlusskapitel zieht R. Graber das Fazit seiner «Demokratiegeschichte von unten» (S. 181), indem er vier Merkmale hervorhebt: den Einsatz legaler Protestformen (wie Bittschriften und Petitionen), die Berufung auf das Landsgemeindemodell, die Aktivierung «volkskultureller Protestformen» mit ihren inhärenten Androhungen von Gewalt und die Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit durch Vereine und Gesellschaften.

R. Grabers Geschichte der direkten Demokratie als Protestgeschichte ist in sich stimmig. Gegen das liberale Narrativ einer bürgerlich-liberalen Geschichte der direkten Demokratie «von oben» setzt er provokativ und überzeugend das Narrativ einer Demokratiegeschichte von unten. Dieser Ansatz ist produktiv, auch in der Art und Weise, wie er ausgeführt ist, und er ist dank einer Vielzahl von Einzeleinsichten empirisch ertragreich. Liest man Grabers Buch als Debattenbeitrag, so ergeben sich ausserdem weitere Fragen.

So frage ich mich heute, ob sich die demokratische Bewegung der 1860er Jahre nicht deutlicher, als R. Graber unterstellt, von früheren Bewegungen unterscheidet. Ihre Protestrhetorik, wie lautstark sie auch artikuliert wurde, tritt gegenüber dem Gewicht und der Differenziertheit des Forderungskatalogs zurück. Auch im Führungspersonal lassen sich deutliche Unterschiede ausmachen. Statt «Volksmänner» setzten sich in den 60er Jahren, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, Angehörige bürgerlicher Milieus an die Spitze (Lehrer, Pfarrer, Journalisten, Kleinunternehmer). Sie waren es, welche die Reformagenda formulierten und propagierten. Hier artikulierte sich ein Typ von Volksbewegung, der sich nur unzureichend als «plebejische Protestbewegung» umschreiben lässt. Verkürzt und zugespitzt ausgedrückt: Im Kern ging es den Sechzigerdemokraten nicht mehr darum, den liberalen Staat zu bekämpfen, sondern ihn im Sinne der eigenen Interessen zu optimieren.

Mit «Demokratie und Revolten» legt R. Graber eine informative, anregende, gut geschriebene Darstellung vor. Zusammen mit dem 2013 publizierten, reichhaltigen und packenden Quellenband «Wege zur direkten Demokratie» bringt er die Historiographie der schweizerischen Demokratiegeschichte einen grossen Schritt voran.

Zitierweise:
Martin Schaffner: Rolf Graber: Demokratie und Revolten. Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz, Zürich: Chronos, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 182-184.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 182-184.

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