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Titel
Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert


Autor(en)
Henny, Sundar
Reihe
Selbstzeugnisse der Neuzeit 25
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
404 S., 35 Abb.
Preis
€ 70,00
URL
von
Tobias B. Hug, Historisches Seminar, Universität Zürich

In der Basler Dissertation untersucht Henny anhand eines vielfältigen Quellenkorpus aus dem Zürich des 17. Jahrhunderts «die Leiblichkeit von Selbstzeugnissen», das heisst er will herausfinden, welche Rolle die materielle Verfasstheit für die Selbstdarstellung spielt. Das Werk umfasst neben einer dreigeteilten Einleitung fünf Fallstudien, 35 Abbildungen, eine Bibliographie und ein Personenregister.

Anhand der Selbstzeugnisse von Johann Jakob Breitinger (1575–1645), wichtiger Antistes der Zürcher Kirche, zeigt Henny, wie hoch dieser das materielle Schriftgut bewertete und damit seine beiden Vorgänger (Zwingli und Bullinger) nachzuahmen versuchte (S. 102). Er vergleicht Breitingers Streben, Schriftgut zu erfassen, aufzubewahren und zu verehren, mit dem katholischen Reliquienkult, ohne aber dessen magische Komponente zu vertiefen (S. 99–102). Salomon Hirzel (1580–1652), Kaufmann und späterer Bürgermeister, hinterliess Notate über familiäre rites de passage, Ehen-, Kinder- und Sterbelisten sowie eine Chronologie seines politischen Wirkens. Der Form und dem Inhalt nach orientierte sich Hirzel an der Buchhaltung. Henny betrachtet die Quellen denn auch im Kontext frühneuzeitlicher Buchhaltungsund Gebetspraxis und charakterisiert sie als «Gebet oder Sammlung von Gebeten», die weniger als Werkgerechtigkeit, sondern als materialisierte Opfergabe oder Danksage fungierten (S. 145–148). Auch Johann Heinrich Waser (1600–1669), Nachfolger von Hirzel, dienten seine zwei Bände De vita sua als Danksagung und Lobpreisung Gottes, jedoch vor allem als Erinnerung und Denkmal für seine Nachfahren (S. 174). Im Vergleich zu seinem Vorgänger schuf er ein monumentales materielles Denkmal zur Repräsentation nach aussen, in welchem er persönliches Schaffen, Heraldik und obrigkeitliche Ehre in einem göttlichen Kosmos verortete. Spannend liest sich das Kapitel über den Pfarrer und Professor Johannes Müller (1629–1684). Seine Lebensaufzeichnungen sind ausführlich notierte Gespräche über alltägliche, religiöse und politische Ereignisse und Kontroversen, welche wiederum von ihm kommentiert wurden. Stehen hier Dialog und Metadialog im Zentrum, sind seine prophetischen Predigten Monologe, mit denen er Ereignisse in den heilsgeschichtlichen Kontext stellte, Kritik an der Obrigkeit ausübte und als Autorität Zorn Gottes vermittelte. Gedruckt und mit Fussnoten und einem Stichwortregister versehen, verfolgte Müller hiermit ein didaktisches Ziel: Erbauung, Besänftigung von Zorn Gottes und Suche nach dessen Schutz. Innerhalb der fünf Fallbeispiele tanzt Johann Jakob Redinger (1619–1688), der «Pädagoge und Türkenmissionar», aus der Reihe. Henny betrachtet Redinger im religiös-politischen Kontext, verortet ihn und seine Schriften aber auch in der langen Tradition von Prophetentum. Redinger verfasste seine drei Schriften vermutlich in seiner zwanzig Jahre dauernden Haft in Zürich (S. 282), die er sich aufgrund seiner exzessiven Missionarstätigkeit und Prophetie sowie seiner Kritik an der rigiden Einbürgerungspolitik der Zürcher Obrigkeit zuzog. Obwohl auch er seine Person und sein Wirken in die Heilsgeschichte einreihte, sind seine Berichte vor allem Warnungen, Ermahnungen, Ankündigungen (S. 286). Indem er sich mit alttestamentlichen Propheten identifizierte, sich als einen Getriebenen und Leidenden darstellte, bedeutete sein Schreibakt nicht nur die physische Publikation seiner Erleuchtung, sondern letztlich auch eine Rechtfertigung seiner Person.

Die Relevanz des Forschungszieles unterstreicht Henny mit der sinnvollen, aber ehrgeizigen Forderung, Selbstzeugnisse aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen, sowie mit einer (etwas vorschnellen) Kritik an der Selbstzeugnisforschung, der er eine mangelnde Auseinandersetzung mit Archiverfahrung und der «dinglichen Verfasstheit der Texte» (S. 12) vorwirft. Erneutes Interesse an der Dinglichkeit von Selbstzeugnissen mag im Kontext der digitalen Welt nicht überraschen und der Leser ist auch gespannt auf die neuen Massstäbe, die der Autor zu setzen verspricht. Die theoretische Auseinandersetzung wirkt jedoch diffus und unvollständig. Was ist mit unserer Archiverfahrung genau gemeint? Es wäre fruchtbar gewesen, zu diskutieren, inwiefern sich die Wahrnehmung des Buches und damit auch die Archiverfahrung in der heutigen Zeit verändert haben. Sätze, wie «Es gibt den ‘reinen’ Breitinger, das Individuum Breitinger also nicht» (S. 102) sind obsolet. In einem Satz wie «Das Selbstzeugnis aggregiert somit von einer dynamisch-polymorphen […] Sache zu einem statischen Gegenstand, der […] Leser und Schreiber […] trennt» (S. 73), liest man überholte Identitätskonzepte und Auffassungen über die Wechselwirkung zwischen Autor / Verleger – Gegenstand – Umfeld – Leser. Wird hier nicht der propagierte Ansatz demontiert?

Die Stärke des Buches liegt daher im kreativen Umgang mit Selbstzeugnissen, der neue Forschungsimpulse gibt. Henny schafft es, sich den Selbstzeugnissen mikrohistorisch anzunähern, liefert Biografien und Überlieferungsgeschichten und lässt mit vielen Exkursen ein immenses Wissen einfliessen. Hauptfrage und Zielsetzung gehen jedoch in dieser unbefriedigend strukturierten und sprunghaft erscheinenden Vielfalt oft unter oder werden sehr marginal abgehandelt (Kap. 6). Der Schluss fällt dann ebenfalls überraschend konventionell aus. Eine konzise Synthese über die «Leiblichkeit von Selbstzeugnissen» wäre wünschenswert gewesen.

Zitierweise:
Tobias Hug: Sundar Henny: Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert, Köln: Böhlau, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 178-180.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 1, 2019, S. 178-180.

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