Festschriften haben Fallstricke. Deshalb beginnen Rezensent:innen ihre Besprechungen häufig mit einer kurzen Einlassung zum Charakter dieser Textgattung und erwähnen Schwierigkeiten wie disparate Beiträge, die kaum kompetent von einer einzigen Person zu bewerten sind.1 Dieses Problem stellt sich auch bei dem hier zu besprechenden Buch – aber dazu später mehr. Allerdings unterscheidet es sich in einem Punkt von den allermeisten Festschriften: Es ehrt eine Frau. Die überwiegende Anzahl geschichtswissenschaftlicher Festschriften ist Männern gewidmet, zum einen, da ohnehin mehr Männer Professuren bekleiden, insbesondere in der Generation, die momentan ihrer Emeritierung entgegensieht. Zum anderen steht eine Reihe von Professorinnen (und auch Professoren) dieser Textgattung kritisch gegenüber, weil sie ihren Mehrwert für die Forschung bezweifelt und den Eindruck einer Schulenbildung und der damit einhergehenden Jüngerschaft vermeiden möchte.
Von dieser Kritik unberührt zeigt sich die vorliegende Festschrift zum 65. Geburtstag der Berner Professorin Brigitte Studer, die 2020 emeritiert wurde. Denn der Text weist zweifellos die klassischen Zutaten dieses Genres auf. So ziert ein Foto der Geehrten vor ihrer Bücherwand die Eingangsseite, mehrere Laudationes der Kolleginnen folgen und nach den thematischen Beiträgen erwartet die Leser:innen ein Werkverzeichnis sowie die obligatorische Tabula Gratulatoria. Inhaltlich sind die Laudationes voll der Anerkennung: «Die Standing Ovations nehmen kein Ende» (S. 11), skizzieren beispielsweise Patricia Purtschert und Michèle Amacker die Reaktionen auf Studers Abschiedsvorlesung im Dezember 2019. Kess formuliert das Fabienne Amlinger, wenn sie sich an die Lehrveranstaltungen bei Brigitte Studer erinnert: Dies sei «schlichtweg der Ort» gewesen, «wo die coolen Studentinnen sassen» (S. 16).
Gebrochen wird das Genre zwar nicht, aber ergänzt um Informationen zum dahinterliegenden Netzwerk, das in Festschriften ansonsten oft unerwähnt bleibt. Im Autor:innenverzeichnis offenbaren die Beitragenden ihre wissenschaftliche Beziehung zur Geehrten und ein Beitrag beleuchtet Studers Rolle beim Aufbau und bei der Etablierung des schweizweit einzigartigen «Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung». Zusammengenommen mit der ausführlichen Schilderung von Studers wissenschaftlichem Werdegang am Ende des Buches bilden diese drei Texte aussagekräftige Quellen für eine historiografische Studie über die Netzwerke von Frauen in der Geschichtswissenschaft im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.
In den thematischen Beiträgen der Festschrift geht es allerdings um Akteur:innen, die nahezu das Gegenteil von Studers Erfolgsgeschichte repräsentieren, nämlich «um Menschen, denen der Zugang zu institutionalisierten Machtpositionen aus verschiedenen Gründen verwehrt und erschwert wird» (S. 20), wie die Herausgeberinnen Lisia Bürgi und Eva Keller dies in der Einleitung ankündigen. Damit sind so unterschiedliche Gruppen wie Frauen in der Fabrik, in der Frauenbewegung, in kommunistischen Zirkeln, in den Kolonien oder im Welschlandjahr, eine Art Au-pair-Aufenthalt von Deutschschweizerinnen in der Romandie, gemeint. Ebenso fallen darunter streikende Arbeiter im Italien der 1970er-Jahre, Hippies, ungarische und ägyptische Flüchtlinge und mit Carl Lutz auch ein Diplomat. Hinzu kommen Beiträge zu konfessionspolitischen Auseinandersetzungen zwischen eidgenössischen Städten, Orten und Gemeinen Herrschaften vor dem 4. Landfrieden 1713 sowie zu den Ereignissen rund um den auf einer Demonstration zur Jahresfeier der Russischen Revolution 1918 in Zürich erschossenen Füselier Vogt. Derlei weitgestreute Einzelbeiträge aus der Perspektive ihrer jeweiligen Forschungsfronten zu besprechen, erscheint unmöglich. Vielleicht wäre dies auch nur Brigitte Studer möglich, denn aus ihren mannigfaltigen Themenfeldern wie der Geschichte des Kommunismus, der Geschlechtergeschichte und der Geschichte des Schweizer Sozialstaates speist sich diese Zusammenstellung. Dieses strukturbildende Element wird ergänzt um die Frage, «inwiefern es Vertrer:innen dieser Gruppen gelang, ihre Ressourcen und Handlungsspielräume trotz Einschränkungen zu nutzen und so die Grenzen existierender Machtstrukturen auszuloten» (S. 20–21) – eine Frage, mit der sich die Sozial-, Alltags- und Geschlechtergeschichte schon geraume Zeit beschäftigt, was sie nicht weniger relevant macht.
Gegliedert ist der Band in drei Teile; im ersten geht es um Strategien, mithilfe derer marginalisierte Gruppen trotz ihres gesellschaftlichen Status Einfluss gewannen und Wandel anstießen, im zweiten Teil stehen dann eher die Exklusionserfahrungen einzelner Akteur:innen und Gruppen im Mittelpunkt und der dritte Teil versammelt Deutungen verschiedenster Gruppierungen, die Verschiebungen und Kontinuitäten innerhalb eines Machtgefüges prägten. Der Vorteil einer solchen analytischen Einteilung besteht darin, dass sie Schlussfolgerungen zulässt, die über die einzelnen, sehr diversen Gruppen hinausgeht. In der Fabrik arbeitende Frauen scheinen ebenso selbstbestimmte Entscheidungen getroffen und Wandel angestoßen zu haben wie etwa streikende Arbeiter in Italien und frauenbewegte Feministinnen. Demgegenüber stehen dann (ausschließlich) Frauen, die sich einem stalinistischen Regime, einer Kolonialmacht und ausbeuterischen Dienstverhältnissen im Welschlandjahr und später im 20. Jahrhundert vor allem Migrant:innen in unterbezahlten Care-Jobs ausgeliefert sahen. Obwohl sich beim zweiten Teil die Frage stellt, weshalb darin nur Frauen analysiert werden, funktioniert die Gliederung trotz ihrer dichotomen Einteilung in handlungswirksame Subjekte auf der einen Seite und Exklusionsmechanismen Ausgelieferte auf der anderen bis hierhin gut. Das liegt vor allem daran, dass innerhalb der Beiträge deutlich differenzierter argumentiert wird. Etwas weniger überzeugt hingegen der Oberbegriff «Deutungen und Erinnern» für den dritten Teil, denn auch in den Artikeln des ersten und zweiten Teils bleiben Deutungen und Erinnerungsfragmente nicht außen vor.
So differenziert wie sich die Autor:innen durchweg ihren jeweiligen Untersuchungssubjekten nähern, so sparsam setzen sie sich explizit kritisch mit vorangegangener Forschung auseinander. Zwar ziehen alle Beitragenden Forschungsliteratur heran, allerdings nimmt diese fast immer eine Unterstützungsfunktion ein, sodass schwer zu entscheiden ist, ob es sich tatsächlich um neue und innovative Ergebnisse handelt. Von dieser Tendenz ausgenommen sind die Beiträge von Regina Wecker, Kristina Schulz und Patrick Kury. Wecker setzt sich im viel beforschten Gebiet der «68er-Generation» besonders intensiv und auch kritisch mit Forschungsthesen sowie journalistischen Zeitdiagnosen auseinander, wodurch ihre eigene These Klarheit gewinnt und überzeugt. Zudem zeigt sie weitere Forschungsperspektiven auf. Auch Kristina Schulz wirft spannende neue Anknüpfungspunkte für die Forschung auf, weil sie auf innovative Weise die Mechanismen, denen Frauen im Welschlandjahr unterlagen, mit jenen verknüpft, die auf ihre designierten Nachfolgerinnen in der Care-Arbeit, die ost- oder außereuropäischen Migrant:innen einwirken. Patrick Kury schließlich dekonstruiert durch einen Vergleich zwischen dem erheblich differierenden Umgang der Schweizer Behörden mit ungarischen und ägyptischen Flüchtlingen in den 1950er-Jahren nicht allein die ohnehin bereits mehrfach hinterfragte Schweizer Selbsterzählung einer «humanitären Tradition». Vielmehr belegt er die Koexistenz von einer Politik der «offenen Grenzen» mit einer «Tradition der Abwehr», die in der Forschung lange Zeit übersehen wurde.
Dieser insgesamt gemischte Eindruck ist auch dem Festschriften-Charakter geschuldet, der es innovativer Forschung erschwert, sich zu zeigen. Einige Beiträge sind Zweitveröffentlichungen, die in ganz anderen Zusammenhängen erschienen sind und die Herausgeberinnen vor die schwierige Aufgabe stellten, sie in ein neues Narrativ einfügen zu müssen. Überdies verhält es sich bei der Artikelauswahl für Festschriften ja meist so, dass die Beitragenden entweder nur aus dem engeren wissenschaftlichen Umfeld der Geehrten stammen und/oder zu ihren Themenfeldern publiziert haben. Dies präjudiziert und beschränkt die Auswahl – allen guten Absichten zum Trotz. Darin könnte auch ein Grund dafür liegen, dass viele andere marginalisierte Gruppen, deren Handlungsoptionen und ihre sich wandelnde Stellung im gesellschaftlichen Machtgefüge ebenfalls von Interesse für das Konzept dieses Buches gewesen wären, wie z.B. Menschen mit Behinderungen, Drogenkonsument:innen oder Wohnungslose, nicht behandelt werden. Festschriften haben also nicht nur Fallstricke, sondern unterliegen auch Netzwerklogiken, die ebenso inklusiv wie exklusiv sein können.
Anmerkung:
1 Siehe dazu z.B. die beiden Rezensionen von Gabriele Lingelbach und Stephanie Irrgang: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9499; https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-4715 (01.07.2021).