P. Rygiel : Historien à l’âge numérique

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Title
Historien à l’âge numérique.


Author(s)
Rygiel, Philippe
Published
Villeurbanne 2017: Presses de l'enssib
Extent
207 S.
by
David Zimmer, -, -

Historiker im digitalen Zeitalter? Der Titel des hier anzuzeigenden Buches – ohne Fragezeichen – macht neugierig. Stärker als andere Publikationen zum Thema, die sich disziplinären, methodischen oder projektbezogenen Fragen widmen, befasst sich das Buch mit den Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Arbeit, den Beruf und den Berufsstand des Historikers.

Philippe Rygiel, Professor für Zeitgeschichte an der École normale supérieure de Lyon, ist mit Jahrgang 1965 alt genug, um in seiner Ausbildung die vordigitale Geschichtswissenschaft kennengelernt, und jung genug, um als Nachwuchswissenschafter die Informatisierung aktiv mitgemacht zu haben. Als quantitativ arbeitender Sozialhistoriker mit Spezialgebiet Migrationsgeschichte gehörte er ab Mitte der 1990er Jahre zu den Pionieren der computergestützten Geschichtswissenschaft in Frankreich und hat deren Entwicklung von überschaubaren «Werkstätten» zu komplexen «Grossunternehmen» kritisch begleitet.

Ähnlich wie Roy Rosenzweigs postum erschienener Essayband Clio wired (2011) vereint der vorliegende Band von Rygiel verschiedene Texte, die früher bereits andernorts veröffentlicht worden sind und in Bezug auf ihren Entstehungskontext, ihren thematischen Fokus und ihre Länge ein beträchtliches Spektrum aufweisen. Während die Beiträge in Rosenzweigs Buch thematisch geordnet sind, folgen diejenigen von Rygiel der Chronologie; wer sein Buch von vorne bis hinten liest, begibt sich auf eine Zeitreise durch zwei Jahrzehnte geschichtswissenschaftlichen Computereinsatzes und Beschäftigung mit dem Thema. Auf diese Weise zeugt Rygiels Essayband zugleich von der Historizität des digitalen Wandels in der Geschichtswissenschaft, der kein abgeschlossenes Ereignis, keine Disruption, sondern einen noch immer andauernden, systemischen Prozess darstelle. Auch «das Digitale» selbst sollte nicht reifiziert, sondern als eine Vielzahl unterschiedlicher Praktiken verstanden werden (S. 17–21, 28, 33).

Der Band setzt sich aus einer 30-seitigen Einleitung und 13 Beiträgen zusammen, die ursprünglich zwischen 1998 und 2014 veröffentlicht worden sind. Die Beiträge/Kapitel sind ohne nähere Begründung zu zwei Teilen gruppiert, vermutlich aufgrund ihrer Relevanz und Gültigkeit für die Leserinnen und Leser in der Gegenwart: Archéologie d’une pratique (Kapitel I–VI) und Réflexivités réticulaires (Kapitel VII–XIII). Jedem Kapitel ist ein typographisch hervorgehobener Ingress vorangestellt, der den Entstehungskontext erläutert. Inhaltlich wurden die Beiträge nicht aktualisiert; angepasst worden sind einige kontextspezifische Formulierungen sowie, sofern die entsprechenden Websites noch existieren, die URLs.

In den einzelnen Kapiteln geht es unter anderem um eine Typologie von Webdiensten für Zeithistoriker; die erste geschichtswissenschaftliche Onlinezeitschrift in französischer Sprache Clio; Quellenkritik und Archivierungsfragen im Netz; die Internetauftritte der französischen Departementsarchive; Begriff und Funktion von Webportalen; ein gescheitertes Vermittlungsprojekt zu Histoire et mémoire des migrations en régions; den Wert von Datenproduktion und -aufbereitung; Recherchieren, Schreiben und neue Formen der (kollektiven) Wissensproduktion im vernetzten elektronischen Umfeld; digitale Forschungsinfrastrukturen; das Web als geschichtswissenschaftliche Quelle; den medialen, das heisst im medientheoretischen Sinne vermittelnden Charakter des Internets; die deontologische Verantwortung der Historiker; den Digital Turn in der Geschichtswissenschaft.

Wiederholt konstatiert Rygiel ein Desinteresse, ja Misstrauen vieler Historiker gegenüber dem Digitalen in der Geschichtswissenschaft. Erst im letzten, 2014 entstandenen Kapitel erkennt er diesbezüglich einen klaren Bewusstseinswandel, der sich ab den 2010er Jahren an einer Flut von analysierenden, aber auch programmatischen Veröffentlichungen zu Digital Humanities, Digital History, «Historiker 2.0», «Érudit 3.0» etc. zeige. Mittlerweile sei evident, dass Netzinformatik mehr bedeute als eine Perfektionierung der Schreibmaschine und des Telefons (S. 180). Rygiel verweist auf die Gefahr, bei der Beurteilung des digitalen Wandels, des damit verbundenen Erkenntnispotenzials und der Folgen für die handwerklich-methodischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft entweder in eine beschwichtigende Rhetorik zu verfallen, wonach letztlich doch alles beim Alten bleibe, oder aber umgekehrt in prophetischer Manier etwas radikal Neues anzukünden (S. 70). Diese Spannung gilt es aufzuzeigen und auszuhalten.

Ferner beklagt Rygiel immer wieder den Mangel an mathematischen und informatiktechnischen Kenntnissen unter Historikern, mithin den im Hinblick auf den digitalen Wandel pitoyablen Zustand der geschichtswissenschaftlichen Ausbildung (in Frankreich). Nicht dass jeder Historiker ein Informatiker werden müsse – doch die Herausbildung und Wertschätzung einer «ingénierie en sciences humaines» sei dringend vonnöten (S. 96). Damit gehe freilich eine zunehmende Spezialisierung, Arbeitsteilung und auch Hierarchisierung einher: «Numérisation ne rime donc pas forcément avec démocratisation et moins encore avec égalité.» (S. 126) Doch nur wenn die Historiker an Prozessmodellierung, Korpusbildung, Datenstrukturierung und -auswertung mitbeteiligt seien – was entsprechende Grundkenntnisse bedinge –, werde es ihnen gelingen, Akteur und integraler Bestandteil der Produktionskette (geschichts-)wissenschaftlichen Wissens zu bleiben (S. 189). Die Historiker müssten sich zudem proaktiv in die digitale Öffentlichkeit einbringen, um den Anschluss an die technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zu verpassen.

Rygiel setzt wichtige Akzente, die in anderen Veröffentlichungen zum Thema kaum Beachtung finden. Allerdings überantwortet seine «Quellensammlung», die verschiedene editorische Mängel aufweist, die Analyse- und Synthesearbeit weitgehend den Leserinnen und Lesern. Einschlägige Publikationen wie Peter Habers Digital Past (2011) und Guido Kollers Geschichte digital (2016) bieten hier einen deutlich systematischeren Zugang.

Zitierweise:
David Zimmer: Philippe Rygiel: Historien à l’âge numérique. Essai, Villeurbanne: Presses de l’Enssib, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 613-615.

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Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 613-615.

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