Das Titelbild, das für die Biografie des Schweizer Bundesrats Emil Welti (1825–1899) gewählt wurde, zeigt diesen einflussreichen Politiker in einem kritischen Moment: Das Ölportrait markiert den Eintritt der Familie Welti in das Grossbürgertum und führte zugleich zu ihrem skandalösen Unglück. Das Buch Bundesrat Emil Welti 1825–1899 führt an Weltis Leben entlang zu diesem Höhepunkt hin und fokussiert dabei auf seine rasche Karriere in der Kantonspolitik, seine Amtszeit in der nationalen Regierung, wo er insbesondere die Entwicklung der Eisenbahn geprägt hat, sowie auf die Zusammenarbeit und die familiäre Verbindung mit dem Unternehmer und „Eisenbahnkönig“ Alfred Escher, dem Gründer der heutigen Großbank Crédit Suisse. Dieser Beitrag zur Geschichte der „großen Männer“ zeigt zwar manche Lücke, erklärt aber spannend die Inbesitznahme des Vermögens Eschers durch die Familie Welti.
Das Buch ist das Ergebnis des „Projekt Biografie Emil Welti“, das seit 2007 unter der Leitung der Historischen Vereinigung Bezirk Zurzach, der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau sowie der Gemeinde Zurzach geführt wird. Heinrich Staehelin wurde 2007 als Autor beauftrag, musste 2016 aber aus gesundheitlichen Gründen das Projekt verlassen, worauf Claudia Aufdermauer die Publikation zu einem Abschluss brachte. Dieser Autorenwechsel zeigt sich auch innerhalb des Buchs: Es ist in sechs unterschiedlich lange, durch Emil Weltis Ämter strukturierte Kapitel aufgeteilt, wobei Staehelin über seine „Herkunft und frühen Jahre“ sowie die Zeit als „Regierungsrat“ schrieb und Aufdermauer die nachfolgenden Kapitel „Ständerat“, „Bundesrat“, „Das Leben neben der Politik“ und schließlich „Erinnerungskultur“ verfasste. Problematisch ist dies, weil sich einige Kapitel zwar zeitlich überlagern, aber kaum Bezüge zueinander aufweisen. So werden etwa die Zeit als „Regierungsrat“ und jene als „Ständerat“ – beide Ämter hatte Welti gleichzeitig inne (1856 bzw. 1857 bis 1866) – praktisch unabhängig voneinander behandelt.
Emil Weltis politische Karriere wird überzeugend als „senkrecht“ (S. 34) bezeichnet. Sein Vater, der im Großen Rat und im kantonalen Obergericht saß, ermöglichte dem 22-jährigen Welti die Gründung einer lukrativen Anwaltspraxis. Nachdem sein Vater – vielleicht in Folge der gegen die liberale Elite gerichteten Reform des Beamtentums (der sogenannte Beamtenausschluss von 1852) – den Großen Rat verlassen musste, wurde Welti 1856 in den Großen Rat und in den Regierungsrat gewählt; er war mit 30 Jahren außerordentlich jung. Welti konnte sich geschickt als „Vermittler“ (S. 76) zwischen der liberalen Elite und der katholischen Opposition etablieren und kam somit als großer Gewinner aus der tiefen politischen Krise des Jahres 1862 heraus. 1857 erfolgte die Wahl in den Ständerat, wo er sich vor allem in außerpolitischen und militärischen Themen einbrachte: Nachdem er als eidgenössischer Kommissar die Abstimmung von 1860 über den Anschluss Nordsavoyens an die Schweiz beaufsichtigt hatte, führte er die eidgenössischen Truppen während den Wahlunruhen in Genf 1864. Bemerkbar machte er sich überdies in den Debatten um den Eisenbahntunnel durch die Alpen, wobei er sich für einen Tunnel durch den Gotthard aussprach. 1866 wurde Welti in den Bundesrat gewählt, nachdem er in den zwei vorherigen Wahlen (1860, 1863) schon als starker Kandidat gegen den amtierenden Aargauer Bundesrat Fiedrich Frey-Herosé angetreten war. Er blieb bis 1891 in der Landesregierung und starb 1899.
Die zentralistische Reform der Armee beschäftigte Emil Welti seit seinem Einstieg in den Bundesrat. Dass seine Tätigkeiten in der Armee eine bedeutende Rolle in seiner politischen Karriere spielten, wird zwar im Buch angedeutet, bleibt aber im Hintergrund der Darstellung. Nachdem er als „Freiwilliger“ (S. 30) in der Tagsatzungsarmee im Sonderbundskrieg (1847) gedient hatte, machte Welti eine steile militärische Karriere und wurde 1866 „zum eidgenössischen Oberst befördert“ (S. 94), der höchste Grad in Friedenszeiten. Als Vorsteher des Militärdepartements war es Weltis Verantwortung, einen General während des Deutsch-Französischen Krieges (1870–1871) zu ernennen: Er wählte dafür den Aargauer Hans Herzog. Weltis militärische Karriere hätte nicht zuletzt deswegen mehr Aufmerksamkeit verdient, weil diese die Kontinuitäten zwischen der kantonalen und der Bundesebene deutlich macht. Aber auch der Schlüsselmoment des Deutsch-Französischen Krieges wäre einer vertieften Analyse wert, vor allem die konfliktreiche Beziehung zwischen dem Bundesrat und dem General: Die These, dass Welti erst nach dieser Kraftprobe „seinen Platz in der Exekutive […] gefunden“ (S. 138) hat, wird leider nicht ausführlich dargestellt.
In der Frage der Eisenbahn vertrat Emil Welti eine mittlere Position zwischen den Befürwortern der Verstaatlichung um Jakob Stämpfli und den Befürwortern der privaten Lösung um Alfred Escher. Dass Escher Welti als Verbündeten in der Frage der Gotthardbahn sah, wird als einer der wichtigsten Gründe seiner Wahl in den Bundesrat ausgeführt. Beide prägten die Entwicklung der Eisenbahn in der Schweiz, arbeiteten zusammen am Bau des Gotthardbahntunnels (1882 eröffnet) und vereinigten ihre Familien im Januar 1883 mit der Eheschließung ihrer Kinder. Die Nähe zu Alfred Escher wird fast ausschließlich im vorletzten Kapitel über Weltis Privatleben dargestellt, was eines der größten Probleme des Buches ist. Es ist schon lange bekannt, dass Welti und Escher eng zusammengearbeitet haben. Ein Verdienst des Buches ist zwar, die besondere Rolle Emil Weltis im Welti-Escher-Skandal der 1890er-Jahre zu beleuchten. Dennoch verpassen es die Autorin und der Autor, die Annäherungen zwischen den beiden Männern überzeugend darzustellen: Zwei Aspekte werden leider nur oberflächlich besprochen, die im Zentrum der Analyse hätten stehen sollen. Escher übte durch Weltis Sohn Friedrich Emil einen direkten Einfluss auf diesen aus, spätestens als er den jungen Welti, gerade mal 19 Jahre alt, 1876 „zu sich nach Zürich Enge“ (S. 241) einlud und sich mit ihm über seine berufliche Zukunft unterhielt. Dieses Treffen wird einzig mit einer Fußnote kommentiert: „Im 19. Jahrhundert war diese Art der Einflussnahme üblich“ (S. 240). Und dass Alfred Escher und Emil Welti jahrelang um eine mögliche Eheschließung zwischen Friedrich Emil – dem einzigen Sohn Weltis – und Lydia – der einzigen Tochter und Erbin Eschers – verhandelten, wird praktisch nur der „Heiratspolitik“ (S. 247) von Weltis Ehefrau zugeschrieben. Dass der einflussreichste Politiker und der einflussreichte Unternehmer des 19. Jahrhunderts ihre Familien vereinigten, müsste stärker beleuchtet werden. Aus Weltis Perspektive, der sein Leben lang in Mietwohnungen gewohnt hatte und nur aus seinem Einkommen als Bundesrat lebte, stellt diese Eheschließung den Höhepunkt seines bemerkenswerten sozialen Aufstiegs dar; ein Höhepunkt, der in einem Ölportrait von 1887 materialisiert ist – ebenjenes Portrait, das als Titelbild des Buchs gewählt wurde. Ausreichend Platz wird hingegen dem Skandal gewidmet, dass Lydia Welti mit dem Maler dieses Ölportraits eine Affäre hatte, die 1890 zur Scheidung führte und mit dem Suizid des Liebespaares endete. Ein Fünftel des beachtlichen Vermögens Eschers geriet somit in die Hände der Familie Welti, während der Rest als Grundkapital für die Gründung der vom Bundesrat verwalteten Gottfried Keller-Stiftung genutzt wurde.
Bundesrat Emil Welti 1825-1899 ist das Ergebnis eines langen Projektes, das unter dem Autorenwechsel litt. Ein so ehrgeiziges Ziel – die Biographie eines der bedeutendsten Politikers des 19. Jahrhunderts, dessen Leben eng mit der Eisenbahnfrage verwickelt war – ist schon unter normalen Umständen mit großem Respekt zu betrachten: Umso mehr ist Claudia Aufdermauers Leistung anzuerkennen, in rund zwei Jahren das Manuskript fertigzustellen. Trotz historiographischen Lücken – die französischsprachige Literatur zur Geschichte der Eisenbahn scheint der Autorin und dem Autor unbekannt zu sein – gibt das Buch viele interessante Einblicke in das Leben und Werk von Emil Welti in seiner Zeit als Bundesrat und trägt somit zu neuen Erkenntnissen der Schweiz im 19. Jahrhundert bei. Die originelle Forschung, die Claudia Aufdermauer für die Ausarbeitung des Skandals Escher-Welti durchgeführt hat, beleuchtet – dies ist abschließend hervorzuheben – nicht nur diese brennende Affäre in einem neuen Licht, sie ist auch ein Stück meisterhafter Erzählung.