R. Hesse u.a.: Aus erster Hand

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Titel
Aus erster Hand. Gehörlose, Gebärdensprache und Gehörlosenpädagogik in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Hesse, Rebecca; Canonica, Alan; Janett, Mirjam; Lengwiler, Martin; Rudin, Florian
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anja Werner, Historisches Seminar, Universität Erfurt

In der Monographie Aus erster Hand setzt sich das fünfköpfige Autorenkollektiv mit der Geschichte der Gebärdensprachnutzung im Gehörlosenunterricht in der Schweiz auseinander. Seit den Anfängen der institutionalisierten Gehörlosenbildung im 18. Jahrhundert schwelte ein Konflikt zwischen der lautsprachlich ausgerichteten „deutschen Methode“ und der gebärdensprachlich ausgerichteten „französischen Methode“, der auch in der schweizerischen Gehörlosenpädagogik des 19. Jahrhunderts Spuren hinterließ (S. 36–40). Doch setzte sich auch hier entsprechend internationalen Trends nach dem Mailänder Kongress der vornehmlich hörenden „Taubstummenlehrer“ von 1880 die (reine) Lautsprachmethode durch und blieb bis etwa 1980 vorherrschend. Die Darstellung spezifisch schweizerischer Entwicklungen innerhalb internationaler Kontexte, über die bisher aus der Literatur zum historischen „Methoden-“ bzw. „Sprachenstreit“ in der Gehörlosenpädagogik kaum etwas zu erfahren war, ist ausgesprochen anregend. Die 1960 eingeführte Invalidenversicherung (IV) etwa ist ein Beispiel für solche schweizerische Spezifika. Verweise auf die IV ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, das zwar einen Überblick vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart gibt, schwerpunktmäßig aber in der Zeit seit Mitte des 20. Jahrhundert verortet werden kann.

In fünf Kapiteln widmen sich die Autorinnen und Autoren der Gehörlosenpädagogik vom 18. bis ins 20. Jahrhundert und nehmen dabei auch den schulischen Alltag sowie Bildungs- und Berufschancen von Gehörlosen in den Blick. Obwohl der vorliegende Band vorrangig die Unterdrückung von bzw. seit den 1980er-Jahren die beginnende Auseinandersetzung mit Gebärdensprache untersucht, ist die Einbeziehung von technischen Entwicklungen zur Hörverstärkung notwendig, um ein umfassendes, vielschichtiges Bild zu erstellen. Folglich finden sich auch knappe Verweise auf aktuelle Tendenzen der Hörerziehung, wie die (Weiter-)Entwicklung von Hörgeräten und Cochlea-Implantaten insbesondere seit den 1970er-Jahren (S. 84–89).

Das Forschungsteam analysiert Traditionen der schweizerischen Gehörlosenpädagogik am Beispiel von sechs Anstalten aus verschiedenen Sprachgebieten der Schweiz (Zürich, Genf, Basel-Stadt, St. Gallen, Luzern und Locarno), die nicht zuletzt maßgeblich von ihren Direktoren und Lehrpersonen geprägt wurden. Unter anderem aufgrund des föderalen Charakters der Schweiz und ihrer Mehrsprachigkeit wird dabei immer wieder auf Berührungspunkte mit der Gehörlosenbildung in Nachbarländern eingegangen. Gerade für die lautsprachliche Tradition spielte aber auch der Niederländer Antonius van Uden (1912–2008) eine wichtige Rolle, der an mehreren der untersuchten Institutionen seine rein lautsprachlich ausgerichtete Methode vorstellte. Demgegenüber brach an der Kantonalen Gehörlosenschule in Zürich unter Direktor Gottfried Ringli (1928–2016) das Primat der Lautspracherziehung vergleichsweise früh auf. Ringli war seit den 1960er-Jahren pragmatisch vorgegangen: Da man trotz „200jähriger Erfahrung auf dem Gebiet […] in der Schweiz in Sachen Erschliessung der Lautsprache nicht wirklich weitergekommen sei“, sah er den rein lautsprachlichen Ansatz als nicht zielführend an (S. 96). Die Öffnung hin zu Gebärdensprachen geschah letztlich über die Zwischenstufe von Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG), die zwar der Grammatik von Lautsprache folgen, aber visuelle Sprachwahrnehmung gestatten.

Während in den ersten Kapiteln vornehmlich schriftliche Quellen verwendet wurden, werden der Alltag an Gehörlosenschulen und die beruflichen Chancen auch auf der Basis von Interviews mit ehemaligem Personal sowie Schülerinnen und Schülern diskutiert. Auf diese Weise können den zumeist von hörenden Pädagoginnen und Pädagogen verfassten schriftlichen Dokumenten die Erinnerungen von ehemaligen Schülerinnen und Schülern gegenübergestellt werden. Die Aussagekraft dieser Herangehensweise offenbart sich insbesondere in der Diskussion von Bestrafungen und Misshandlungen. Für alle sechs Institutionen werden Beispiele für Strafen bei Gebärdensprachnutzung im Unterricht angeführt sowie Strafen für „Vergehen“ wie Bettnässen. Gebärdensprache wurde vehement, wenn auch nicht überall konsequent unterdrückt – so gibt es auch Beispiele für Lehr- und Aufsichtspersonal, das das Gebärden in der Freizeit duldete. In Zürich gab es etwa Mitte des 20. Jahrhunderts die „Apfel-Strafe“, bei der von gebärdenden Kindern verlangt wurde, in einer Ecke stehend laut Artikulationsübungen auszuführen, ohne dass dabei der auf ihrem Kopf platzierte Apfel herunterfiel. Gebärdensprache wurde so verunmöglicht. Grausamkeiten und physische Gewalt fanden noch bis in die 1960er-Jahre häufig Anwendung. Die aufgezeigte fehlende Empathie und das fehlende Verständnis für die visuellen Bedürfnisse gehörloser Kinder bis in die jüngste Vergangenheit sind bestürzend, entsprechen aber Erfahrungen an Gehörlosenschulen in Deutschland.1 Bei den Schülerinnen und Schülern hinterließen die Strafen nachhaltigen Eindruck: „Viele befragte Personen schilderten das Ende der Schulzeit als eine grosse Erleichterung“ (S. 224); ein ehemaliger Schüler erzählte im Interview, dass er „oft grundloses Misstrauen gegenüber Hörenden“ hege, „selbst im eigenen Familienkreis“ (ebd.). Eine psychologische Beratung in Gebärdensprache wäre nötig, um das Erlebte verarbeiten zu können (S. 225). Bereits das Gespräch mit den Forschenden tue gut, um „das alles auch mal zu erzählen und loszuwerden“ – so sei es für manche Interviewte „das erste Mal“ gewesen, „dass jemand danach gefragt habe“ (S. 226–227).

Dass die Sichtweisen der Betroffenen ohne Polemik einbezogen werden, ist eine große Stärke des Bandes. Auch deuten sich so Möglichkeiten für eine diachrone Gebärdensprachforschung an: Beispielsweise gebärdeten Schülerinnen und Schüler zwar trotz des Gebärdensprachverbots untereinander, sie konnten dabei aber keine differenzierte Gebärdensprache nutzen, sondern verwendeten eher eine gebärdete Form der sie umgebenden Lautsprache. Für die Ausbildung einer vollwertigen Gebärdensprache wäre das Vorbild von gehörlosen Erwachsenen mit voll entwickeltem Sprachverständnis nötig gewesen. Letztere wurden aber erst Ende des 20. Jahrhunderts wieder in die Bildung und Erziehung gehörloser Kinder einbezogen. Es wird deutlich, wie dringend notwendig ein Umdenken innerhalb der Hörgeschädigtenpädagogik ist, wie dringend vor allem im deutschsprachigen Raum von der universitären Lehre bis in die Praxis der Schulen neue integrative Modelle der Sprachvermittlung unter Einbeziehung von Gebärdensprache realisiert werden müssen.

Nicht geschmälert wird der Wert des Bandes durch kleine faktische Ungenauigkeiten, gerade was die Einordnung in internationale Kontexte betrifft. Letztlich sind diese der Tatsache geschuldet, dass es kaum aktuelle Literatur zur Geschichte von Taubheit und Hörgeschädigtenpädagogik im deutschsprachigen Raum gibt. Historikerinnen und Historiker beschäftigen sich hier selten mit der Thematik, sodass es an fundierten historischen Monografien mangelt. Um ein Beispiel zu nennen: Im Abriss der aufkommenden Gebärdensprachforschung in Deutschland wird in der hier besprochenen Publikation auf Siegmund Prillwitz (geboren 1942) und Otto Kröhnert (1925–1993) in Hamburg verwiesen, mit denen „erstmals im 20. Jahrhundert deutsche Gehörlosenpädagogen“ sich „mit dem Einsatz von Gebärden im Unterricht von Gehörlosen“ befassten (S. 80). Das muss nuanciert werden. Mit Gebärden hatte man sich immer wieder auch im deutschsprachigen Raum befasst. Hierzu bedarf es weiterer Forschung, bekannt ist aber etwa, dass Matthias Schneider (1869–1949) im frühen 20. Jahrhundert durchaus einen Sinn in Gebärden sah, und zwar als Hilfsmittel, um Lautsprache zu erläutern. Notwendig ist an dieser Stelle die Differenzierung in Gebärden bzw. Gebärdensysteme einerseits und Gebärdensprache andererseits. Prillwitz, der Germanist und kein Hörgeschädigtenpädagoge war, beschäftigte sich mit Gebärdensprache als einem eigenständigen Sprachsystem, das losgelöst von Lautsprache funktioniert. 1980 war die Deutsche Gebärdensprache (DGS) aber noch nicht klar definiert. Dies würde erst durch Prillwitz‘ Publikationen geschehen, wobei die "offizielle Geburtsstunde" der DGS mit der Veröffentlichung einer ersten Grammatik im Jahr 1985 verortet werden kann.2 Das eigentlich Interessante an diesen Entwicklungen ist, dass die Nutzung von Gebärden im Gehörlosenunterricht die Notwendigkeit linguistischer Forschung mit sich brachte und somit neue Kooperationen zustande kamen, wie etwa jene zwischen Kröhnert und Prillwitz.

Das genannte Beispiel verdeutlicht auch, wie wichtig und letztlich grundlegend es ist, sich kritisch mit Begrifflichkeiten im Kontext einer Gehörlosengeschichte bzw. der Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik auseinanderzusetzen. Die Autorinnen und Autoren weisen gleich zu Beginn auf die besonderen Herausforderungen der Definition und Nutzung von Terminologien hin.3 Sie nutzen zum Beispiel für die schweizerischen Kontexte den Begriff „gehörlos“. Demgegenüber setzt sich unter Stakeholdern in Deutschland derzeit der Begriff „taub“ durch, weil er nicht explizit auf ein Defizit verweist und daher eher für eine soziokulturelle Identifizierung geeignet ist. Neuerdings wird auch der Begriff „gebärdensprachlich“ verwendet, bei dem der Hörstatus komplett irrelevant ist und die sprachlich-kulturelle Identifizierung in den Mittelpunkt rückt. Es wäre aufschlussreich, Nuancen im deutschsprachigen Raum weiter zu untersuchen und dabei auch den internationalen Kontext im Blick zu behalten.

Alles in allem ist die Studie eine große Bereicherung für die deutschsprachige Forschungslandschaft, die interdisziplinäre Impulse etwa für die Medizingeschichte, Bildungsgeschichte und nicht zuletzt die weitere Geschichtsschreibung geben kann mit der Fokussierung auf die Bildung und Erziehung einer kleinen Bevölkerungsgruppe, die gerade in historischen Studien häufig übersehen wird. Zu Unrecht, wie der vorliegende Band belegt: Gehörlosengeschichte ermöglicht fachrichtungs- und länderübergreifende Fallstudien, die anregende Lektüre auch für Nicht-Fachleute bieten.

Anmerkungen:
1 Es hat ähnliche Interviewprojekte in Europa gegeben. Ulla Klinkhart, „Ich wünsche mir ein kleines bisschen Glück, dass die Lehrer gebärden können.“ Erfahrungen gehörloser SchülerInnen aus dem Zeitraum 1939–2014, in: Das Zeichen 32/108 (2018), S. 62–75; Roland Pfau / Asli Göksel / Jana Hosemann (Hrsg.), Our Lives – Our Stories. Life Experiences of Elderly Deaf People, Berlin 2021.
2 Siegmund Prillwitz / Regina Leven, Skizzen zu einer Grammatik der Deutschen Gebärdensprache, Hamburg 1985.
3 Zur Terminologie vgl. den österreichischen Beitrag von Franz Dotter, Hörbehindert = gehörlos oder resthörig oder schwerhörig oder hörgestört oder hörgeschädigt oder hörsprachbehindert oder hörbeeinträchtigt?, in: SWS-Rundschau 49/3 (2009), S. 347–368, www.sws-rundschau.at/archiv/SWS_2009_3_Dotter.pdf (16.04.2021); zu Deutschland vgl. Anja Werner, Lautsprache, Gebärdensysteme oder Gebärdensprache? Sprache und Partizipation bei unterschiedlichen Formen von Hörschädigungen, in: Bettina M. Bock / Philipp Dreesen (Hrsg.), Sprache und Partizipation in Geschichte und Gegenwart, Bremen 2018, S. 193–210.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.05.2021
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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