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Titel
Maurice Bavaud - verhinderter Hitler-Attentäter im Zeichen des katholischen Glaubens?.


Autor(en)
Steinacher, Martin
Reihe
Anpassung – Selbstbehauptung – Widerstand
Erschienen
Berlin 2015: LIT Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
von
Josef Lang

Drei Aussagen sind im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentäter Maurice Bavaud unumstritten: Wäre sein Vorhaben gelungen, wäre der Menschheit viel Leid erspart geblieben. Das Vorgehen des Missionarsschülers war beharrlich, aber nicht professionell. Die eidgenössischen Behörden in Bern sowie deren Vertretung in Berlin haben den am 14. November 1938 verhafteten und am 14. Mai 1941 hingerichteten Schweizer schmählich im Stich gelassen. Die drei wichtigsten Streitfragen lauten: War Bavaud ein Wahnsinniger mit einem absurden Motiv oder handelte er als Nazi-Gegner? War er ein Einzeltäter oder das Opfer einer «Folie à deux»? Sind Aussagen unter dem Fallbeil glaubwürdiger, wenn sie in der Hoffnung auf die Rettung des eigenen Lebens oder wenn sie im Bewusstsein der Unausweichlichkeit dessen Verlustes gemacht werden?

Der deutsche Historiker Martin Steinacher ist im Rahmen einer Staatsexamensarbeit an der Münchner Maximilian-Ludwig-Universität einer weiteren Frage, die bereits Niklaus Meienberg im Film und im Buch «Es ist kalt in Brandenburg»1 beschäftigt hat, systematisch nachgegangen: War Bavaud ein katholischer Überzeugungstäter? Dabei geht der Autor vom «einzigen öffentlichen Bekenntnis» (S. 4) des gescheiterten Attentäters aus, das dieser am 18. Dezember 1939 vor dem Volksgerichtshof abgegeben hat. Laut Urteilsbegründung hatte er Hitler töten wollen, weil er die «Persönlichkeit des Führers und Reichskanzlers für eine Gefahr für die Menschheit [halte], vor allem auch für die Schweiz, deren Unabhängigkeit der Führer bedrohe. Vor allem aber seien kirchliche Gründe für seine Tat bestimmend gewesen: denn in Deutschland würden die katholische Kirche und die katholischen Organisationen unterdrückt». Er glaubte, «mit seiner geplanten Tat der Menschheit und der gesamten Christenheit einen Dienst zu erweisen» (S. 5). In den Gestapo-Verhören, denen Bavaud vom 24. bis zum 31. Januar 1939 ausgeliefert war, hatte er behauptet, im Auftrag einer «einflussreichen Persönlichkeit» gehandelt zu haben. Später, als Bavaud wieder Hoffnung auf eine schweizerische Intervention hegte, kam er in einem von sechs Briefen an die Eltern, welche die Gestapo nicht weiterleitete, auf die Behauptung eines «Auftraggebers» (S. 89) zurück. Die erstmalige Nennung eines Namens, Maurice Gerbohay, sollte diesem nach der Besetzung Frankreichs das Leben kosten.

Im Sinne seiner «Leitfrage» stellt Steinacher zuerst die Verfolgung des Katholizismus seit 1933 vor. Dann geht er auf die Wirkung ein, welche die nazikritische Enzyklika «Mit brennender Sorge» vom 21. März 1937 auf den damaligen Internatszögling Bavaud und seine Mitschüler gehabt haben muss. Die päpstliche Verlautbarung kritisierte insbesondere die Verletzung des Reichskonkordats, das der Vatikan 1933 mit Hitlerdeutschland geschlossen hatte. Darauf widmet sich Steinacher der tiefreligiösen Jugend Bavauds, des ältesten Sohns einer einfachen und kinderreichen Familie im protestantischen Neuenburg. Der Ministrant Maurice, der als Kind vor einem kleinen Hausaltar die Messe zu feiern pflegte, verbrachte viel Zeit in der Bibliothek, wo er alles Mögliche las, von der sozialistischen «Sentinelle» bis zur faschistischen «L’Action Française». Seine Lieblingsautoren waren neben den Russen Gogol und Tschechow der rigorose Moralist Blaise Pascal, der skeptische Humanist Michel Montaigne, der vitalistische Philosoph Henri Bergson sowie der pazifistische Praktiker Ghandi. Diese weltoffene Lektüre und die Mitgliedschaft im Arbeiterverein St. Josef hinderten ihn nicht daran, 1934 als 18jähriger Lehrling für ein halbes Jahr beim rechtsextremen Front National mitzumachen.

Als 19-Jähriger fasste Bavaud den Berufswunsch, Missionar zu werden und trat deshalb im Oktober 1935 mit anderen Westschweizern in das bretonische Internat St. Ilan ein. Trotz aller Opferbereitschaft war dem an persönliche Freiheiten gewohnten Neuenburger das Schulregime zu rigid. Ohne Studienabschluss verliess er St. Ilan im Juli 1938 wieder. Was diese entscheidende Zeit betrifft, räumt Steinacher der Freundschaft Bavauds zu seinem Mitschüler Marcel Gerbohay viel Platz ein. Mit dem Franzosen teilte der Schweizer das «gemeinsame Faible für Literatur aller Art» (S. 39). Gerbohay, der im Institut als Phantast galt, behauptete, der Neffe von Nikolaus II. zu sein und mit Hilfe Hitlers auf den Zarenthron gelangen zu wollen. Gemäss Klaus Urners Bavaud-Studie sollen «die beiden verwandten Seelen» diesen «Wahn» in einer «Folie à deux» geteilt haben.2 Zuerst habe der Auftrag an Bavaud gelautet, Hitler zu einem Ostfeldzug zu überzeugen. Nach dem Münchner Abkommen, das laut Gerbohays späteren Aussagen gegenüber der Gestapo die Hoffnung eines Krieges gegen die Sowjetunion zerschlagen habe, erhielt Bavaud die Anweisung, Hitler umzubringen. Dass Gerbohay eher ein geltungssüchtiger Aufschneider als ein Wahnsinniger war, zeigt die Tatsache, dass er 1941 unter geänderten Umständen mit einigem Erfolg behauptete, der Sohn de Gaulles zu sein.

Auch wenn laut Meienbergs Recherchen und Steinachers Einschätzung «von einer besonders antihitlerischen Stimmung im Internat nichts zu spüren gewesen sei», gab es doch Diskussionen über die Ermordung des Führers. Steinacher zitiert aus Urners Buch einen Schweizer Mitschüler Bavauds, für den damals festgestanden habe, «dass der deutsche Fanatiker, der die Kirche unterdrückte, Andersdenkende niederknüppelte, die Juden verfolgte und seine Nachbarstaaten bedrohte, getötet werden müsse, bevor er noch grösseres Unheil anrichte.» Solche «keineswegs abwegig anmutenden Ideen» dürften laut Steinacher auf Bavaud «weitaus mehr Anziehungskraft besessen haben, als die kuriosen Hirngespinste des zeitweilig konfusen Freundes» (S. 42). Zudem kann Bavaud die wachsende Distanz des kranken Papst Pius IX. zu den deutschen und italienischen Konkordatspartnern anlässlich des «Anschlusses» Österreichs im März und des Hitler-Besuches beim Duce im Mai 1938 nicht entgangen sein.

Detailliert setzt sich Steinacher ausgehend von der pazifistischen Gesinnung Bavauds, die auch im Zusammenhang mit der eigenen Wehrpflicht zum Ausdruck kam, mit der Frage nach dem «Tyrannenmord im christlich-katholischen Glauben» auseinander. Da dürfte Niklaus Meienbergs Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Missionsgedanken und Bereitschaft zum Martyrium Bavauds Persönlichkeit besser erfasst haben. Dessen Entscheidung zum Tyrannenmord fiel mit dem Münchner Abkommen, der Kapitulation westlicher Demokratien vor den Nazis, Ende September 1938. Dabei dürfte die deutliche Kritik des katholischen Oberhaupts Bavaud bestärkt haben. Ab dem 2. Oktober spielte Bavaud gegenüber deutschen Medien und gegenüber Verwandten in Baden-Baden, zu denen er am 10. Oktober gezogen war, den überzeugten Nationalsozialisten. Am 20. Oktober kaufte er in Basel eine Pistole mit allzu schwachem Kaliber, reiste damit zuerst nach Berlin, dann nach Berchtesgaden und schliesslich nach München, um irgendwie an Hitler heran zu kommen. Dabei ging er durchaus geplant und raffiniert vor, bis er sich nach dem endgültigen Scheitern auf der Zugfahrt Richtung Westen ohne Billet, was noch ginge, aber mit Pistole verhaften liess.

Steinacher bringt nicht nur starke Argumente für Bavaud als katholischen Überzeugungs- und überlegten Einzeltäter. Er hat auch zwei starke Einwände gegen die «These vom wahnhaften und fremdgesteuerten Attentäter». Es gibt «bis zum heutigen Tag» keinen Beweis für «eine psychische Störung oder gar eine Psychose» (S. 98). Und hätte die «stets nach konspirativen Hintermännern suchende» Gestapo Bavauds Behauptung vom «Auftraggeber» die geringste Glaubwürdigkeit geschenkt, hätte sie den Namen des «vermeintlichen Anstifters» zur Ermordung Hitlers «kurzerhand aus ihm herausgefoltert» (S. 80). Aber sie kümmerte sich vom 31. Januar bis zum 18. Dezember 1939 nicht mehr um den Attentäter. Zwischenzeitlich stellte der Universitätsprofessor Müller-Hess ein Gutachten aus, in dem er Bavaud als «strenggläubigen Katholik» einstufte, der «den Katholizismus durch den Nationalsozialismus für gefährdet gehalten» habe und «als religiöser Fanatiker» glaubte, «die angebliche Gefahr beseitigen zu können» (S. 84).

Martin Steinachers Buch ist ein starkes Plädoyer dafür, religiösen Glauben als Handlungsmotiv wahr- und ernstzunehmen. Eine kritische Bemerkung sei am Schluss trotzdem angebracht: Hie und da erscheinen die Kirche und der Vatikan widerständiger, als sie in Wirklichkeit gewesen sind. Bavaud taugt ebenso wenig zur Beschönigung des damaligen Verhaltens des offiziellen Katholizismus wie zu dem der offiziellen Schweiz. Sein Handeln muss seine Kirche wie sein Land, die sich allzu anpässlerisch verhalten haben, erst recht beschämen.

1 Niklaus Meienberg, Es ist kalt in Brandenburg. Ein Hitler-Attentat, Zürich 1980.
2 Klaus Urner, Der Schweizer Hitler-Attentäter. Drei Studien zum Widerstand und seinen Grenzbereichen, Frauenfeld / Stuttgart 1980, S. 229.

Zitierweise:
Josef Lang: Rezension zu: Martin Steinacher, Maurice Bavaud – verhinderter Hitler-Attentäter im Zeichen des katholischen Glaubens? Berlin: LIT, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 602-604.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 602-604.

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