S. Fehr: Die Erschliessung der dritten Dimension

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Title
Die Erschliessung der dritten Dimension. Entstehung und Entwicklung der zivilen Luftfahrtinfrastruktur in der Schweiz, 1919 – 1990


Author(s)
Fehr, Sandro
Series
Verkehrsgeschiche der Schweiz 1
Published
Zürich 2014: Chronos Verlag
Extent
342 S.
Price
URL
by
Christopher Neumaier, Zentrum für Zeithistorische Forschung

Das grosstechnische System des modernen Flugverkehrs baut auf einer umfangreichen Infrastruktur auf, deren Entwicklung der Historiker Sandro Fehr am Beispiel des gewerbsmässig organisierten zivilen Passagierverkehrs in der Schweiz von ihren Anfängen 1919 bis zum Ende des Ausbauprogramms für Zivilflughäfen 1990 schlüssig nachzeichnet. Zugleich bettet Fehr diese Prozesse in einen transnationalen Kontext ein. Den Terminus «Luftfahrtinfrastruktur» definiert Fehr als «die Grundlagen […], die das Verkehrssystem ,Luftfahrt‘ als funktionierendes Gesamtsystem ausmachen und einen sicheren, regelmässigen und effizienten Flugbetrieb überhaupt erst ermöglichen.» (S. 15) Diese weitgefasste Begriffsbestimmung deutet bereits Fehrs Anspruch an: Die Entwicklung der infrastrukturellen Komponenten des Luftverkehrs soll umfassend dargestellt werden, was ihm in der überzeugenden Studie auch gelingt. Der Fokus der sechs chronologisch gegliederten empirischen Kapitel liegt auf den Flughäfen, den Verkehrswegen wie Lufträume und Flugstrassen sowie den Flugsicherungsanlagen und -diensten. Dass Fehr Dienstleistungen als Teil der Infrastruktur versteht, verweist darauf, dass er den klassischen Infrastrukturbegriff ausweitet.

Seine Fragestellung befasst sich mit der Grösse, den konkreten geografischen Ausprägungen und der Organisation des Infrastruktursystems. Sie fragt auch, wie seine Elemente, zum Beispiel technische Artefakte, Institutionen und Dienstleistungen, aufeinander bezogen waren. Zudem analysiert Fehr die Rahmenbedingungen, also welche gesellschaftlichen, lokalen, nationalen, globalen, aber auch staatlichen, privaten und politischen Interessen, Ideen und Konzeptionen diskutiert wurden. Vielleicht hätte sich an dieser Stelle eine eindeutigere analytische Differenzierung zwischen politischen Zielen auf kantonaler und nationaler Ebene oder zwischen privaten und wirtschaftlichen Interessen angeboten, zumal Fehr dies in den empirischen Kapiteln leistet. Als theoretisches Grundgerüst zieht Fehr den Ansatz der Grosstechnischen Systeme heran und orientiert sich insbesondere an dem von Renate Mayntz entwickelten Phasenmodell (Initialphase, Wachstum und Konsolidierung, Stasis, Niedergang). Eine starre Anwendung eines solchen Modells läuft immer Gefahr, dass sich der fliessende Übergang zwischen den Phasen und

den ihnen innewohnenden Dynamiken nicht hinreichend darstellen lässt. Fehr umgeht dieses Problem, indem er schon in der Einleitung darauf verweist, dass sich die Phasen in der Praxis überschneiden würden und dies dann auch in den empirischen Kapiteln immer wieder durchschimmert.

Nach einem kurzen Abschnitt zur Pionierzeit zeigt Fehr auf, wie in der Zwischenkriegszeit der zivile Flugverkehr expandierte und wie Kantone und Gemeinden den Ausbau vorantrieben, auch weil sie sich einen wirtschaftlichen Nutzen und Prestige versprachen. Aufgrund der Bedeutung der Wirtschaftsstandorte Zürich, Basel und Genf entstand bereits damals das «Flugplatzdreieck», dessen Bedeutung mit den Plänen zum Bau eines schweizerischen Zentralflughafens Bern-Utzenstorf kurz zur Disposition stand. Die Idee eines Zentralflughafens im Mittelland der Schweiz resultierte aus einem Umdenken bei der Flughafenplanung, die fortan stärker auf nationaler Ebene erfolgte. Diese Entwicklung vollzog sich während des Zweiten Weltkriegs, den Fehr aber noch aus weiteren Gründen als eine zentrale Zäsur einstuft. So wurde infolge der Kriegsentwicklung der zivile Flugverkehr temporär eingestellt. Zudem wurde 1944 das Chicagoer Abkommen unterzeichnet, das die Gründung der internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO, umfassende Standardisierungsprozesse und den Aufbau eines internationalen Luftrechts vorsah. Diese Veränderungen leiteten die Wachstumsphase ein, die dann in den 1950er Jahren ihre Wirkmächtigkeit entfaltete. Fehr rekurriert hier auf den von Christian Pfister geprägten Begriff vom «1950er-Syndrom», um damit den enormen Anstieg der Passagierzahlen ab den 1950er Jahren in Analogie zum steigenden Energieverbrauch einzuordnen (S. 188 f.). Insofern markieren die 1950er Jahre einen weiteren wichtigen Einschnitt, zumal sich auch das «Flughafendreieck» erneut zum Knotenpunkt des zivilen Flugverkehrs entwickelte, was Fehr unter anderem an Zürich-Kloten diskutiert.

Während der Wachstumsphase zeigten sich aber auch erstmals Engstellen, die Fehr in Anlehnung an den Technikhistoriker Thomas P. Hughes als «reverse salients» klassifiziert. Zum Beispiel stellte der enorme Anstieg des Flugaufkommens und der verstärkte Einsatz von Düsenflugzeugen ab den 1960er Jahren die Flugsicherung vor Probleme, da die höheren Fluggeschwindigkeiten neue Anforderungen aufkommen liessen. Neue Techniken wie die digitale Datenübertragung und computergesteuerte Radarbilder halfen, diese Schwierigkeiten einzugrenzen. Überdies stellten die neuen Flugzeuge den Flughafenausbau vor Herausforderungen. Die Düsenflugzeuge benötigten längere Pisten, was sich schnell umsetzen liess. Die entsprechenden Hochbauten, um die steigenden Passagierzahlen abzufertigen, fehlten anfangs zunächst jedoch noch. Darüber hinaus kam es auch verstärkt zu Konflikten. Einerseits stellten Streiks bei der Flugsicherung eine wirtschaftliche Herausforderung für Flughafenbetreiber dar. Andererseits verbreiteten sich innerhalb der schweizerischen Gesellschaft Forderungen nach Schutzmassnahmen für Anwohner vor Fluglärm wie Nachtflugverbote. Fehr verweist hier auf die «1970er-Diagnose» und meint damit, dass in dieser Dekade das Mensch-Umwelt-Verhältnis neu definiert worden sei.

Abschliessend behandelt Fehr die Veränderungen der 1980er Jahre, die er unter die Schlagworte «Regionalisierung, Liberalisierung und Multimodalität» stellt.

Fehrs lesenswerte Studie sei nicht nur jedem nahegelegt, der sich für die Entwicklung der zivilen Luftfahrt im 20. Jahrhundert interessiert. Sie ist auch anschlussfähig an jüngere Studien, die sich mit der architektonischen Gestaltung von Flughäfen oder den Protesten gegen Fluglärm auseinandersetzen oder aber die Expansion des Tourismus behandeln.1 Überdies erfährt der Leser, wie lokale und nationale Prozesse in einen internationalen Kontext eingebettet waren.

1 Vgl. Sonja Dümpelmann, Flights of Imagination. Aviation, Landscape, Design, Charlottesville / London 2014; Anke Ortlepp, Jim Crow, Terminals. The Desegregation of American Airports, Athens, Georgia 2017; Bret Edwards, Aeromobile Sprawl. Mass Air Travel and its Socio-Environmental Impact in 1970s Canada, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 14/3 (2017), S. 442–464; Moritz Glaser, Urlaub als Umweltbelastung. Kritik am Paradigma «Wohlstand durch Tourismus» in Spanien während der 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 14/3 (2017), S. 420–441.

Zitierweise:
Christopher Neumaier: Rezension zu: Sandro Fehr, Die Erschliessung der dritten Dimension. Entstehung und Entwicklung der zivilen Luftfahrtinfrastruktur in der Schweiz, 1919–1990, Zürich: Chronos, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 598-600.

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Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 598-600.

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