G. J. Albert: Das Charisma der Weltrevolution

Cover
Titel
Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927


Autor(en)
Albert, Gleb J.
Reihe
Industrielle Welt 95
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
631 S.
Preis
€ 85,00
URL
von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Gleb J. Albert beschäftigt sich in seiner Dissertation mit einem Thema, das in der bisherigen Forschung weitgehend vernachlässigt worden ist. Zwar wurde immer wieder auf die Bedeutung der Weltrevolution für die Geschichte der Sowjetgesellschaft hingewiesen. Doch dass der Internationalismus kommunistische Lebenswelten prägte, die Idee ein Charisma ausstrahlte, das die Praxis zahlreicher Akteure nach 1917 entscheidend beeinflusste, ist bislang kaum gesehen worden. Hier eine «kulturhistorisch und praxeologisch informierte Gesellschaftsgeschichte des Internationalismus» (S. 18) geschrieben zu haben, ist das grosse Verdienst dieser Studie.

Souverän ordnet der Autor die Geschichte internationalistischen Denkens und Handelns in den gesamteuropäischen Kontext revolutionärer Entwicklungen ein. Vor diesem Hintergrund stellt er die verschiedenen «Typen» internationalistisch-revolutionärer Akteure vor und geht eingehend auf jene ein, die mit Begeisterung und Hingabe vom Charisma der Weltrevolution erfasst waren, denen es zu ihrem Selbstverständnis gehörte und eine «konkrete Utopie» (S. 175) für die Zukunft bedeutete. Diese blieb auch bei vielen erhalten, nachdem das Scheitern revolutionärer Erhebungen in der Welt und die Probleme der Neuen Ökonomischen Politik seit 1921 eine Ernüchterung bewirkt hatten. Detailliert analysiert Albert die unterschiedlichen Praktiken vor und nach 1921. In den ersten Jahren nach der Revolution war die unmittelbare Begeisterung spürbar, am Vorabend grosser Umwälzungen in aller Welt zu stehen. Sie schlug sich in individuellem und kollektivem Handeln nieder. Zwar stiess auch in dieser Phase die persönliche Hingabe Einzelner an die Idee des Internationalismus immer wieder mit den kollektiven Parteikonzepten zusammen, die Disziplin verlangten. Doch erst in den 1920er Jahren wirkte sich dieser strukturelle Widerspruch zunehmend dahingehend aus, dass der Internationalismus mehr und mehr ein von der Partei geleitetes Mobilisierungsinstrument wurde, mit dessen Hilfe sich die «Massen» artikulieren sollten. Da sich zugleich die konkreten Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen in der Welt nicht erfüllten, wuchsen Enttäuschung und Desinteresse. Allerdings äusserten sich auch Protest und Widerstand gegen die Akzentverschiebung, nun das Interesse der Sowjetpolitik und der Partei höher als die Weltrevolution zu stellen. Nach wie vor blieb die Idee des Internationalismus im Alltag vieler Menschen präsent.

Beispielhaft analysiert Albert den erwähnten strukturellen Widerspruch in der Tätigkeit der MOPR, der «Internationalen Organisation zur Hilfe für die Kämpfer der Revolution», die zugleich die sowjetische Sektion der Internationalen Roten Hilfe bildete. MOPR war ab 1925 die grösste Massengesellschaft der UdSSR und repräsentierte das Parteikonzept der «Gesellschaftlichkeit». Sie sollte verhaftete und verfolgte Revolutionäre im Ausland unterstützen und fand zunächst bei den internationalistischen Aktivisten gute Resonanz. Doch dieser institutionalisierte Internationalismus, in steigendem Masse von der Parteiführung gegängelt, entleerte die Idee ihres Charismas. Die individuelle Motivation schwand zusehends. Albert zeigt dies unter anderem an den Sammlungskampagnen, an den gelenkten «Patenschaften» für revolutionäre politische Gefangene im Ausland und an den internationalistischen Brieffreundschaften. Als hier etwa der unkontrollierte individuelle Kontakt mit Hilfe des Esperanto zu intensiv wurde, griff die Parteiführung immer stärker ein, bis der Esperanto-Verband um 1937 / 38 aufgelöst und zahlreiche seiner Mitglieder Opfer des stalinistischen Terrors wurden. Ähnliche Entwicklungen arbeitet Albert beim «internationalen Fahnentausch», beim Besuch ausländischer Arbeiter in der Sowjetunion oder beim internationalistischen Einsatz sowjetischer Aktivisten heraus.

Für Stalin wurde der Internationalismus zum Synonym für Opposition, er wertete ihn ab und bekämpfte ihn. Bereits zuvor war er zu einem sinnentleerten Ritual und einem «von oben» kontrollierten Verwaltungsakt geworden. Die charismatische Idee, die ein hohes Ideal mit einer konkreten Hoffnung im alltäglichen Handeln verband, scheiterte nicht nur an der Realität. Als die Weltrevolution – die «Bewährung» für die Idee (S. 550) – ausblieb, diente diese immer mehr der Stabilisierung der Ordnung. Sie drang nun institutionalisiert und kontrolliert in den Alltag der Akteure ein. An die Stelle des revolutionären Internationalismus trat die Verteidigung des «sozialistischen Vaterlandes». Vereinzelt blieben Träume, die «einen Funken von weltrevolutionärem Charisma» in sich trugen (S. 556) und auch die Stalin-Zeit überdauerten (S. 564), wie Albert deutlich macht.

Die Studie beruht auf umfangreichem, bislang weitgehend nicht ausgewertetem Quellenmaterial, darunter beeindruckenden Selbstzeugnissen. Das Konzept, von der Akteursperspektive und den Lebenswelten der Menschen ausgehend eine Gesellschaftsgeschichte zu verfassen, hat sich bewährt. Vermutlich aufgrund des ohnehin sehr grossen Umfangs des Buches hat Albert meist darauf verzichtet, die Biografien der Akteure ausführlich darzulegen, und hat stattdessen auf entsprechende Quellen und Literatur verwiesen. Das ist manchmal bedauerlich. So weist Albert darauf hin, dass der Leiter der MOPR von Vjatko, Mark Min’kov, ein sehr engagierter und erfolgreicher Internationalist gewesen sei. 1927 wurde er jedoch als Trotzkist aus der Partei ausgeschlossen, 1938 ermordet (S. 360 f.). Interessant wäre gewesen, etwas über die Mechanismen zu erfahren, warum er trotz seiner Popularität ohne weiteres ausgeschlossen werden konnte und welche Rolle sein Internationalismus dabei spielte. Auch in anderen Fällen hätte sich die Möglichkeit geboten, anhand persönlicher Schicksale allgemeine Vorgänge zu vergegenwärtigen. Doch insgesamt gelingt es Albert, seinen methodischen Ansatz überzeugend durchzuführen.

Mit ihren vielfältigen Aspekten – von denen hier nur wenige angedeutet werden konnten – wirft die Arbeit neues Licht auf die ersten zehn Jahre der Sowjetgesellschaft. Die politischen Konzepte, das Verhältnis von Gesellschaftlichkeit und individueller Motivation, die Umsetzung von Ideen in praktisches Handeln, die Unterschiede in den verschiedenen Phasen der Sowjetgeschichte zwischen Revolution und Stalinismus – all dies und vieles mehr wird differenziert beleuchtet. Sprachlich angemessen und theoretisch reflektiert, bedeutet Alberts Studie einen Durchbruch in der Erforschung dieser Zeit.

Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension zu: Gleb J. Albert, Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927, Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 596-598.