J. Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert

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Titel
Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Tanner, Jakob
Reihe
Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
676 S.
Preis
€ 39,95
URL
von
Martin H. Geyer, Historisches Seminar, LMU Muenchen; Martin H. Geyer, Historisches Seminar, LMU Muenchen

«Europa ist unsere Gegenwart, aber unsere Geschichte bleibt im Nationalen verwurzelt » (S. 7), konstatiert Ulrich Herbert, der Herausgeber der Serie zur europäischen Geschichte, in seinem Vorwort. Jakob Tanners Geschichte der Schweiz steht in der Tradition der grossen Nationalgeschichtsschreibung. Aber der emeritierte Züricher Historiker ist kein Panegyriker der Nation, sondern ein kritischer Historiker, der mit distanziertem Blick, manchmal auch mit Verwunderung, jedoch nie ohne engagierte Empathie für seinen Gegenstand, die Vergangenheit seines Landes in den Blick nimmt. Entfaltet wird die Geschichte dieses Landes mitten in Europa nicht nur in den engen Grenzen, sondern in ihrer Verflechtung mit Entwicklungen und Ereignissen in den Nachbarländern und globalen Prozessen, mithin dem, was früher als «die Welt» bezeichnet worden wäre. Dabei geht es Jakob Tanner um die spezifischen Bedingungen und Folgen sowie die Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten der Konstituierung des staatlichen und nationalen Raumes und seiner verschiedenen Akteure in Politik, Wirtschaft und Kultur in europäischen und globalen Kontexten. Kennzeichnend ist Tanners subtile, manchmal auch ironisch getönte Hinterfragung nationaler Modi der Selbstbeschreibung. Mit der boomenden internationalen Nationalismusforschung geht es ihm um die Konstruktion von nationalen «Selbst- und Fremdbildern in einer fortlaufenden imagologischen Bastelei» (S. 17), also um die Erfindung nationaler Traditionen in einem Europa, in dem Ende des 19. Jahrhunderts allenthalben nationale Mythen erdacht und in der Folgezeit vielfach fort- und umgeschrieben wurden: Mythen, welche die nationalen Wurzeln, aber auch Souveränität und Neutralität, demokratische Traditionen und wirtschaftliche Entwicklung betreffen. Dieser konsequente Fokus auf die verschlungenen Wechselbeziehungen und Verflechtungen zwischen «innen» und «aussen» strukturiert die Darstellung. Damit wird die Schweiz bei allen ihren Besonderheiten – in einem Europa mit seinen vielen nationalen Besonderheiten – vielfach auf ihre europäischen Normallagen zurückgeführt. Interessanterweise kommen damit die spezifischen Tendenzen der Schweizer Geschichte vielfach sogar schärfer zum Ausdruck.

Der Aufbau folgt einer chronologischen Gliederung in drei Teilen, von denen der erste unter dem Titel «Robuster Kleinstaat» die Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis in die frühen zwanziger Jahre, der zweite «Bedrohte Nation, offene Volkswirtschaft» die Zeit von der Mitte der 1920er bis in die 1960er und der dritte «Widerwillige Bewegung» die Zeit des letzten Drittels des Jahrhunderts bis zur Gegenwart abdeckt. In jedem dieser Teile wiederholen sich bestimmte Leitthemen, wie etwa «Prosperität um 1900», «Dissonanzen der Moderne um 1925» und «Konsummoderne in der helvetischen Malaise um 1965». Immer geht es dem Verfasser darum, das Zusammenspiel und wechselseitige Verhältnis verschiedener Entwicklungen im Bereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in bestimmten Zeitphasen in den Blick zu nehmen. Der durchgehende Fokus auf die Sozialund Wirtschaftsgeschichte ist ein grosser Gewinn. Entwicklungen im Bereich der Hochkultur bleiben dagegen weitgehend ausgespart; das gilt im Übrigen leider auch für die kaum ausgeführte Religionsgeschichte, wenngleich sich Hinweise darauf mit Blick auf die Entfaltung der Konsumgesellschaft und die Parteiengeschichte finden lassen.

Die chronologisch-systematischen Querschnitte laden zu Vergleichen mit den Nachbarländern ein, und das Buch liefert bemerkenswerte und in jeder Hinsicht spannende (aber nicht immer explizit ausgeführte) Perspektiven auf historische Einordnungen und Interpretationen des 20. Jahrhunderts. So gehört es weitgehend zum Konsens der Forschung, die epochale Zäsur des Ersten Weltkrieges zu betonen. Tanner zeigt nachdrücklich, wie sich allenthalben zu beobachtende Phänomene wie beispielsweise der erklärte Ausnahmezustand, die kriegswirtschaftlichen Organisationsbemühungen oder die Zuspitzung sozialer Konflikte auch in der Schweiz finden lassen. So verschärfte der grosse Landesstreik 1918 die innenpolitischen Fronten, was sich im Erfolg der Schweizer Sozialdemokraten widerspiegelte. Tanner hat zwar den europäischen Bürgerkrieg der Ideologien, wie er von Eric Hobsbawm und vielfach auch von deutschen Autoren unter Rückgriff auf Carl Schmitt in die neuere Diskussion gebracht wurde, im Visier, weist ihm jedoch keine zentrale Rolle zu. Tatsächlich liefert er eine andere Geschichte, die sich im Wesentlichen um die erfolgreiche Rekonstruktion und Stabilisierung des Landes, ja auch um die Entstehung der modernen Schweiz vor dem Hintergrund dieser Ausnahmesituation dreht. Vor vielen Jahren hat der amerikanischer Historiker Charles Maier von einem «Recasting of Bourgeois Europe» gesprochen (ohne auf die Schweiz einzugehen, so wie Tanner nicht auf Maier eingeht). Gegen Maier liess sich zu Recht einwenden, dass diese Rekonstruktion der bürgerlichen Vorkriegsordnung in Frankreich, England, Italien und Deutschland, also jenen Ländern, die notorisch für Europa herhalten müssen, nach dem Ersten Weltkrieg letztlich nicht oder nur unvollständig gelang. Mit der Rückkehr zur erfolgreichen Golddeckung des Frankens und der nach dem Weltkrieg gesteigerten Attraktivität des Finanzplatzes, der fortschreitenden Integration des Landes in den Weltmarkt sowie die Familie des Völkerbundes war aber gerade die Schweiz ein hervorragendes Beispiel für eine solche erfolgreiche Stabilisierung, die mehr als nur eine Rückkehr zur Vorkriegsordnung war. Tanner betrachtet das Jahr 1922 insofern als ein «Schicksalsjahr» als der von der Linken lancierte Volksentscheid über eine Vermögensabgabe der Wohlhabenden zum Abbau der Staatsschulden scheiterte. Letzteres war, ähnlich wie zuvor schon in Deutschland, wo die Inflation dieses Geschäft besorgte, eine politische wie wirtschaftliche Machtfrage, welche Tanner eindeutig im Sinne des «bürgerlichen Blocks» entschieden sieht. In solchen Abschnitten des Buches werden zum einen die Vorzüge des wirtschaftshistorischen Fragehorizontes deutlich. Wie wohl in keiner anderen Darstellung zur europäischen Geschichte gelingt es Tanner brillant, die Verwebung der Schweiz in den aufblühenden politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Internationalismus einzuordnen, der mit dem Sitz des Völkerbundes in Genf ein wichtiger Teil der Schweizer Geschichte wurde.

Die Zwischenkriegszeit ist kein für sich abgeschlossener Container. Zumal in der deutschen Forschung hat sich eine Interpretation etabliert, wonach sich der Übergang zur modernen Massen-, Konsum-, Parteien- und Mediengesellschaft vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre durchsetzte. Dabei ist es eine der zentralen Frage, wie krisenhaft sich diese «klassische Moderne» (Detlev Peukert) entfaltete. Alle Formelemente dieser Moderne finden sich auch in der Schweiz, aber Tanner spricht eher von Verunsicherungen und identifiziert zugleich einen ausgesprochenen Aufbruchsgeist und neue Zukunftserwartungen. Auf diesem Hintergrund werden für die verschiedensten Felder von Wirtschaft und Technik wie Politik und Kultur Entwicklungslinien von der Mitte der 1920er bis in die 1960er Jahre gezeichnet. Viele der früheren Hoffnungen gingen in Erfüllung, ja diese Nachkriegsschweiz mochte bald als die beste aller Welten erscheinen. Vieles von dem, was über Wohlstandssteigerung und die Konsummoderne, bis zu den industriellen Beziehungen und dem weitreichenden politischen Konsens auch im Zeichen des Kalten Krieges, zu lesen ist, kennen wir aus variantenreichen Darstellungen zu den «trentes glorieuses» (Fourastié) in anderen Ländern. Sie gleichen sich alle verblüffend. Kennzeichnend für die Schweiz ist das Fehlen nicht nur von Kriegszerstörungen und von sozialen Kriegsfolgelasten, letztere vielfach verbunden auch mit neuen Inflationen, sondern auch die Tatsache, dass die sozialen und politischen Eliten politisch und moralisch kaum kompromittiert waren.

Doch die Darstellung bleibt nicht bei solchen sozial- und strukturgeschichtlichen Kontinuitätslinien stehen. Auch für einen vergleichenden Blick auf europäische Entwicklungen ist die Analyse der Zeit der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkrieges von Bedeutung. Die Zeit der Ideologien hinterliess auch in der Schweiz Spuren, und es gelingt Jakob Tanner, zentrale Aspekte der Transformation von Politik und der politischen Kultur sowie ihre Folgen auch in der Nachkriegszeit zu veranschaulichen. Tatsächlich war das Konzept und die Idee der «geistigen Landesverteidigung» eine Schweizer Variante der nationalen Mobilmachung, die in den 1930er Jahren einsetzte. Damit reagierte das Land auf die Propaganda des aggressiven Nationalismus der Nachbarstaaten, zugleich aber warnt der Autor davor, darin einen antitotalitären Basiskompromiss oder gar eine einheitliche Ideologie zu sehen. Vielmehr identifiziert er verschiedene Strömungen, die die Idee der «geistigen Landesverteidigung» auf ihre jeweils sehr unterschiedliche Weise adaptierten oder sich gar, an den Rändern des politischen und kulturellen Spektrums, dem nationalen Konsens verweigerten. Es war und blieb umstritten, wie man sich insbesondere gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland verhalten sollte. Wiederholt werden viele kritische Fragen, welche die neuere Forschung aufgeworfen hat, gestellt. Das betrifft die Behandlung der jüdischen Flüchtlinge, den Verstoss gegen Neutralitätsregeln im Zusammenhang mit Kriegsmateriallieferungen und Clearingkrediten, den Goldhandel oder die Kontrolle der Gotthardtransite. Eine der Thesen lautet, dass die «geistige Landesverteidigung» ein breites Spektrum von Lösungen und Handlungsmustern offen liess, darunter demokratische, aber auch autoritäre wie fremdenfeindliche, was zugleich das Lavieren gegenüber und die unterschiedlichen Reaktionen auf Deutschland erklärt. Die Pointe ist, dass in dieser Konstellation ältere, aus dem 19. Jahrhundert stammende Formen der Schweizer Selbstbeschreibung mit nachhaltiger Wirkung um- und fortgeschrieben wurden. Tanners gerade an dieser Stelle leicht bissig-ironisch unterlegte Entzauberung einer heroischen Nationalgeschichte wird deutlich, wenn er in diesem Zusammenhang von der Herausbildung einer «nationalmetaphysischen Sonderfallideologie » spricht, ja von einem «Knotenpunkt» in der imaginären Konstruktion des 20. Jahrhunderts mit ihren nationalen Mythenerzählungen (S. 291). Ähnliches liesse sich – unter ganz anderen Vorzeichen – auch mit Blick auf andere Länder formulieren, etwa die Idee der «résistance» in Frankreich (auch wenn der deutsche Fall in der Folge des Holocaust zu einer nachhaltigen Kritik der Mythen führen sollte).

Tanner verbindet diese kritische Darstellung des Krieges mit einer spezifischen Lesart der Nachkriegsentwicklungen. Der Krieg führte zur sozialen und kulturellen Verfestigung des nationalstaatlichen Territorialprinzips mit neuen Formen der Abschliessung. Damit einher ging die Verfestigung des Neutralitätsgedankens mit der Armee, die als «mentaler Kristallisationskern einer unabhängigen Alpenrepublik» fungierte (S. 465), ebenso wie die Verfestigung einer spezifischen Männergesellschaft, die traditionell Aktivdienst mit Aktivbürgerrecht koppelte: Der Aktivdienst habe sich zu einer Nationalmythologie entwickelt – und so zugleich für lange Zeit über den Weltkrieg hinaus das Frauenstimmrecht blockiert. Wie in anderen Ländern kann man ein Zusammenrücken der politischen Parteien und damit die Stärkung älterer Formen der Konsensdemokratie beobachten; frühere soziale Polarisierungen traten in den Hintergrund und Vorbehalte der Linken gegenüber dem Kapitalismus schwanden. Daraus formierte sich, wie man formulieren könnte, eine Schweizer Variante des sozialen Konsensliberalismus, und das unter Führung des Freisinns, einer Partei, die ja zu den wenigen in Europa übrig gebliebenen Fackelträgern des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts zählt. Die «geistige Landverteidigung» mit dem Konzept des «réduit» verdichtete sich in der Idee der «Festung Schweiz», die wesentlich die Verteidigung des «harten» Schweizer Frankens, die Wahrung des Bank- und Geschäftsgeheimnisses, die strafrechtlich abgesicherten Kultur der Diskretion und eine international ausgezeichnet vernetzte Wirtschaftselite beinhaltete. Es ist ein Land, das ohne Vorbehalte und erfolgreich europäische und Weltmarktstrategien im Bereich der Ökonomie verfolgte, dabei die Vorteile des unter amerikanischer Hegemonie entstehenden internationalen liberalen politischen Systems ausschöpfte, sich in den verschiedensten Gremien auch selektiv engagierte, ohne sich aber politisch zu binden. Der heraufziehende Kalte Krieg verfestigte diese Konstellation. Die konfliktreiche internationale Nachkriegsordnung schuf die politischen wie wirtschaftlichen Voraussetzungen, von denen das Land, unter anderem als vermeintlich sicherer Hafen von Fluchtgeld jeder Art, profitierte. Anders formuliert: Die Prosperität der Nachkriegszeit war nicht nur auf eigene Leistung zurückzuführen, sondern auf eine für die Schweiz glückliche internationale Konstellation, die erst diesen Sonderfall und Sonderweg ermöglichte. Nicht zuletzt mit Blick auch auf die Zäsur des Endes des Kalten Krieges ist das eine wichtige Beobachtung.

In der zeitgeschichtlichen Forschung ist die Frage nach den Auflösungserscheinungen des «sozialen und demokratischen Konsenses» (Dahrendorf / Hobsbawn) am Ende der «trentes glorieuses» inzwischen eine feste Grösse. Einmal mehr liefert Jakob Tanner auch in diesem Fall eine interessante und anregende Interpretation, indem er das Spannungsverhältnis von wirtschaftlicher Globalisierung und nationalen Souveränitätsvorstellungen mit ihren Fixierungen auf nationale Grenzen, die sich seit dem 19. Jahrhundert verfestigt hatten, ganz in den Vordergrund stellt. Nicht die wirtschaftliche Stagnation und Verwerfung des internationalen Wirtschaftssystems, welche in der britischen und mehr noch der deutschen Historiographie so sehr hervorgekehrt werden, sondern umgekehrt gerade der wirtschaftliche Erfolg des Schweizer Wegs in und mit der globalen Wirtschaft führte seit den 1970er in eine Krise, ja mehr noch: Er führte zu einer Krise der mentalen Selbstverortung der «Festung Schweiz». In nachgerade dialektischer Manier entfaltet Tanner dieses Argument: «Wenn die Schweiz ihren Pfad in den materiellen Wohlstand weiter verfolgen wollte, so hatte sie gar keine Wahl, als sich auf den Wandel des europäischen und globalen Umfeldes einzustellen, sich anzupassen und einzufügen» (S. 443), das heisst, die Schweiz musste sich öffnen und binden. Transnationale Verflechtungen, darunter auch neue Lebensstile, die mit einer Entprovinzialisierung in Verbindung gebracht werden, trugen dazu bei. In immer neuen Anläufen wird dieses Argument entfaltet: mit Blick auf die politischen Grundrechte wie das Frauenstimmrecht, die Entwicklung des sozialen Sicherungssystems oder die unaufhaltsame supranationale Integration der Schweizer Wirtschaft, Gesellschaft und nicht zuletzt des komplexen nationalen Rechtssystems. Menschenrechte waren eine Sache; davon nicht loszulösen waren andere internationale Standards etwa im Bereich der Geldwäsche oder des Schwarzgeldes. Minutiös werden die langsam sich zeigenden Auflösungserscheinungen der «Festung Schweiz» beschrieben, eine Auflösung, die der Schweiz und den Schweizern nicht nur von aussen aufgezwungen wurde, sondern die, das ist Tanners Pointe, nicht zuletzt von Schweizer Akteuren vorangetrieben wurden: von Wirtschaftsführern, Bankern, Politikern, aber auch von Vertretern sozialer Bewegungen und avantgardistisch-hedonistischer Konsumbewegungen. Zu den interessanten Phänomen unserer Gegenwart zählt zweifellos, dass seit den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Abstimmung über den (gescheiterten) UNO-Beitritt und dann der sukzessiven Annäherung an die europäische Gemeinschaft mit dem seit den 1980er Jahren weltweit wirtschaftlich erfolgreich operierenden Unternehmer Christopher Blocher und der früheren Bauernpartei SVP eine Gegenbewegung entstand, die auch die politischen Eliten zutiefst verunsicherte. Der Historiker Tanner wird hier zum engagierten, gelegentlich polemischen Kommentator, was mit erklärt, dass einige Schweizer Kritiker des Buches offenbar die Botschaft, nämlich das Problem eines Spagats zwischen supranationaler wirtschaftlicher Integration und Souveränitätsbehauptung, vielfach mit dem Botschafter verwechselt haben. Zugleich sieht Tanner mit seinen geschichtspolitischen Betrachtungen und einiger Verblüffung, dass just in dem Augenblick, als sich historische nationale Mythen im Nebel der Globalisierung aufzulösen schienen, sie in neuer Gestalt zurückkehren. Als Träger identifiziert werden städtische Mittelschichten, wo, so kann man hinzufügen, schon immer historische Imaginationen blühten: «in den locker,verhäuselten‘ Agglomerationen» mit ihrem «gefühlten ,Dichtestress‘» und den «zersiedelten Landschaften», die, so Tanner, zum «Echoraum für historische Mythen» wurden (S. 488). Ist das nicht, so mag man fragend hinzufügen, eine Variante der Dialektik der Globalisierung?

Das Buch ist ausserordentlich material- und faktenreich, dicht geschrieben und der Leser findet viele Mosaiksteine, die zusammen ein grosses Bild ergeben. Auf Leerstellen hinzuweisen, ohne beispielsweise die vielen interessanten Ausführungen des Verfassers zur Verfassungsentwicklung anzusprechen, mutet daher leicht pedantisch an. Dazu gehört die Persistenz wie die Transformation spezifischer sozial-moralisch-religiöser Milieus mit ihren ländlichen und urbanen, auch sprachregionalen Ausprägungen. Nicht-Schweizer erführen gerne mehr über die Funktionsweise dieser traditionell militärisch eingebundenen Männergesellschaft, und zwar auch im Kontext der sich erstaunlich reibungslos durchsetzenden Demokratisierung des Landes. Dass viele thematische Zusammenhänge zerrissen werden, liegt in der Natur solcher historischen Synthesen. Verwunderlich bei einem solchen Projekt ist das Fehlen eines thematischen Registers; das führt zu Rezeptionsbarrieren. Denn wer sich auf die Suche nach konkreten Themen wie dem Frauenstimmrecht, Konkordanzdemokratie, einzelnen Aspekten des Internationalismus und der Globalisierung oder der delikaten Unterscheidung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung macht, der muss in der gedruckten Fassung lange blättern.

Jakob Tanner ist ein grosser Wurf gelungen. Das Buch wird als Monument einer im besten Sinne des Wortes engagierten und kritischen Schweizer Geschichtsschreibung einen festen Platz in der Historiographie einnehmen. Wie wenige andere Länderdarstellungen illustriert es die Chancen der Situierung der nationalen Geschichte in der europäischen und globalen Geschichte. Gerade weil Tanner keine monumentale Hurrageschichte verfasst hat, sondern sehr genau die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern herausgearbeitet hat, zeigt er eindringlich, dass es viele gute Gründe gibt, der Schweiz einen gebührenden Platz in der Historiographie zu Europa und der Globalisierung einzuräumen.

Zitierweise:
Martin Geyer: Rezension zu: Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 584-590.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 584-590.

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