T. Zaugg: Bundesrat Philipp Etter (1891–1977)

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Titel
Bundesrat Philipp Etter (1891–1977).


Autor(en)
Zaugg, Thomas
Erschienen
Basel 2020: NZZ Libro
Anzahl Seiten
766 S.
Preis
CHF 58.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patrick Kury, Historisches Seminar, Universität Luzern

Philipp Etter zählt zu den herausragenden und zugleich umstrittenen Bundesräten der Schweiz im 20. Jahrhundert. Während seiner außerordentlich langen Amtszeit, die ihm den Beinamen «Étternell» einbrachte, stand er von 1934 bis 1959 ohne Unterbruch dem Departement des Innern vor. Dieses führte er nach 1945, im Zeitalter des Kalten Kriegs, der Neuordnung Europas und der einsetzenden wirtschaftlichen Boomphase, zu rasch wachsender Bedeutung. Mit der Einführung der Sozialwerke AHV und IV, dem Ausbau der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH, der Gründung des Schweizerischen Nationalfonds und der Lancierung des Nationalstraßenbaus standen große Projekte an. Im Gegensatz zu diesen «goldenen Jahren» fiel die erste Hälfte von Etters Amtszeit als Bundesrat mit dem Höhepunkt des «Zeitalters der Katastrophen» zusammen, mit weltwirtschaftlichen Krisen, ständig wachsenden politischen Spannungen und schließlich mit einem weltumspannenden Kriegsgeschehen samt Völkermord und atomaren Erstschlägen.1 Diese Jahre gewährten weniger Raum für Gestaltung, sondern verlangten ein Krisenmanagement, das einen Weg zwischen nationaler Selbstbehauptung und Koexistenz mit den faschistischen und nationalsozialistischen Nachbarn suchte. Etter trat hier sowohl als zentraler Gestalter der Geistigen Landesverteidigung wie auch als vorsichtiger, anpassungswilliger und insbesondere gegenüber Italien als wohl gesonnener Magistrat in Erscheinung. Es versteht sich von selbst, dass Etters politische Tätigkeit als Bundesrat, die in gleich langen Phasen sowohl in das Katastrophenzeitalter als auch in die «goldenen Jahre» fiel, kontrovers beurteilt wird. Dies umso mehr, als sein politisches Denken und Handeln stark von katholisch-konservativen Positionen der Innerschweiz bestimmt war, die in der politischen Kultur des Landes eine Randstellung einnahmen. Beispielsweise begrüßte Etter christlich-ständestaatliche Vorstellungen und offenbarte zumindest vor seiner Bundesratszeit wenig Distanz zu rechtsradikalen frontistischen Ideen.

Kontroversen ausgelöst hat auch die erste umfangreiche, auf Selbstzeugnissen basierende Biografie, die Thomas Zaugg 2020 vorgelegt hat. Teilweise waren die Kritiken so scharf, dass sich der Autor gezwungen sah, diesen in den Schweizer Monatsheften zu entgegnen.2 Dass von Martin Pfisters Lizentiatsarbeit aus dem Jahr 1995 abgesehen größere biografische Untersuchungen zu Philipp Etter bisher ausblieben, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Zugang zum Privatnachlass Philipp Etters nur in Ausnahmen gewährt wurde.3 Thomas Zaugg hat diesen zwischen 2014 und 2018 im Staatsarchiv Zug geordnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei wurde der Bestand, wie der Autor vermerkt, «von Philipp Etter wie auch von Familienangehörigen vor der Abgabe im Staatsarchiv Zug mehrfach durchgesehen. Etter räumte 1960 offen ein, verschiedene persönliche Briefe eigenhändig zerstört zu haben» (S. 24). Es ist somit anzunehmen, dass es sich beim unvollständigen Nachlass um einen Bestand handelt, der Etter in einem möglichst günstigen Licht präsentieren möchte. Auf dieser Grundlage legt Thomas Zaugg seine über 700-seitige, chronologisch strukturierte Studie vor. Die Untersuchung liest sich trotz des Umfangs leicht und zeugt von großer Akribie und Systematik. Sie ist in sieben Teile gegliedert, wobei fünf Etters Jahre als Bundesrat thematisieren. Der Autor präsentiert viel Neues, insbesondere aus der Jugend- und Studienzeit Etters oder zur Genese der Geistigen Landesverteidigung und ergänzt oder korrigiert frühere Einschätzungen und Bewertungen. So relativiert er unter anderem den Einfluss des Freiburger Rechtsintellektuellen Gonzague de Reynold. Die in den 1970er-Jahren einsetzende Kritik an den Positionen Etters und seiner Politik hält Zaugg vielfach für überzogen, da diese teilweise auf mangelnder Quellenbasis erfolgt sei. Zugleich glaubt Zaugg auch, dass es den Verfasserinnen und Verfassern kritischer publizistischer und historischer Arbeiten oft an der Bereitschaft gefehlt habe, sich vertieft «ethnologisch in die Lebenswirklichkeit und Denkkategorien einer katholischen Welt» hineinzuversetzen (S. 23). Methodisch wäre es hierzu hilfreich gewesen, den gewählten biografischen Ansatz mit dem lebensweltlichen zu verknüpfen, wie er in der schweizerischen Historiografie seit zwei Jahrzehnten zur Erforschung jüdischer Lebenswelten propagiert wird.

Thomas Zaugg hingegen wählt ein Narrativ, das seine gesamte Arbeit in Schieflage befördert. Er präsentiert Philipp Etter als «Hüter der Mitte», ohne eine Theorie der politischen Mitte der Schweiz von den 1930er- bis Ende der 1950er-Jahre zu entwickeln. Zwar kann man die Einschätzung Zauggs zumindest in Teilen für die «goldenen Jahre» teilen, in denen Etter einen Ausgleich zwischen Links und Rechts gesucht hat. Allerdings unterminiert Zaugg sein Argument unwillentlich, indem er im Schlusskapitel Jean-Marie Musy und Eugen Bircher als Referenzgrößen zu Etter anführt. Dass sich Etter von den Positionen seines Vorgängers im Bundesrat, der, wie Zaugg festhält, sich zu einem «Parteigänger von Hitlers ‚neuem Europa‘» entwickelte, ebenso distanzierte wie von den Vorstellungen des Aargauer Übervaters der Bürgerwehren, der während des Zweiten Weltkriegs die neutralitätspolitisch höchst fragwürdige Schweizer Ärztemission auf deutscher Seite an der Ostfront leitete (S. 207), macht ihn noch nicht zu einem Mann der Mitte. Während den 1930er-Jahren politisierte Etter allerdings inmitten dieses rechtskonservativen Lagers und offenbarte eine gefährliche Nähe zu frontistischen Zielen. Zaugg sieht darin vor allem politische Taktik, indem er bemerkt, dass Etter der Gefahr der Frontisten mit «taktischen und rhetorischen Mitteln» begegnete, «ohne die frontistischen Postulate zu übernehmen» (S. 223). Ein Vergleich über die Grenze hinweg hätte die schweizerische Spielart der katholischen Rechten deutlicher hervortreten lassen und zugleich den nationalen Tunnelblick aufgebrochen.

Um seine kühne These zu untermauern, entproblematisiert und beschönigt Zaugg verschiedene Sachverhalte, was sich am Antisemitismus aufzeigen lässt. Zaugg befasst sich mit Etters Antisemitismus ausführlich zum einen im Rahmen seiner Tätigkeiten als Redaktor der Zuger Nachrichten vor 1934; zum andern anhand des Zweiten Weltkriegs, als Etter als Teil der Landesregierung die restriktive Flüchtlingspolitik zu verantworten hatte. Dabei betont der Autor, dass Etter gemäß der im «katholischen Lehrgebäude verbreiteten» Vorstellungen einen «erlaubten» christlichen «Antisemitismus» vertrat, der sich von einem biologistisch-rassistischen Antisemitismus unterschied (S. 126). Dass die These des «doppelten Antisemitismus» sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz seit mindestens 20 Jahren kontrovers diskutiert wird, führt Zaugg nicht weiter aus.4 Für jüdische Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkriegs die antisemitische Flüchtlingspolitik zu spüren bekamen oder an der Grenze zurückgewiesen wurden, jedenfalls waren die Konsequenzen die gleichen, ob diese nun auf der Grundlage von «erlaubten» oder «unerlaubten antisemitischen» Motiven erfolgten. Zaugg räumt zwar ein, dass Etter während des Kriegs vorbehaltlos alle bundesrätlichen Maßnahmen der antisemitischen Flüchtlingspolitik mitgetragen hat. Zugleich aber führt er verschiedene Argumente ins Feld, die Etters Position tendenziell exkulpieren. Beispielsweise führt er Etters Argument vor, dass die Ernährungslage für die restriktive Flüchtlingspolitik ausschlaggebend gewesen sein müsse. Eine Argumentation, wie Zaugg festhält, der sich auch Bundesrat Eduard von Steiger bediente. Interessanterweise war es ausgerechnet der rechtsgerichtete, fremdenfeindliche Vaterländische Verband, der diese Begründung noch während des Kriegs als Scheinargument entlarvte. Im November 1942 betonte der Verband, dass die Ernährung bei der Aufnahme von Flüchtlingen kein Problem darstelle, sondern dass es in der Flüchtlingsfrage um etwas «Tieferes», um die Frage der Überfremdung gehe.

Zauggs beschönigende Argumentationsweise ließe sich auch an weiteren Themen wie Etters rückwärtsgewandter Familien- und Bevölkerungspolitik aufzeigen. Die darin verschiedentlich zum Ausdruck kommende völkische Diktion liest Zaugg aber bloß als rhetorisches Spiel, da er diese «mitunter im Ausdruck aber selten in der Substanz» getragen habe (S. 612). Zwar mag der Versuch, Philipp Etter mittels der vorliegenden «politischen Biografie» neu in der Mitte zu verorten, verschiedenen Politstrategen der Gegenwart in die Hände spielen, obwohl dies kaum die Intention des Autors gewesen sein mag.5 Historisch überzeugen kann dieses Unterfangen allerdings nicht. Statt die politische Neupositionierung Etters durchzuexerzieren, was Zaugg letztlich auch den Vorwurf revisionistischer Geschichtsschreibung eingetragen hat6, wäre es ratsamer gewesen, die Biographie Etters von ihrem Ende her zu konzipieren. Zauggs Studie endet mit dem Hinweis, dass Philipp Etter auf dem Sterbebett seinem Sohn, dem bekannten Benediktinerpater Kassian, anvertraute, dass «er in seinem Leben viele Fehler gemacht habe» (S. 715). Hätte Thomas Zaugg diese Aussage an den Anfang gestellt, hätte er die Freiheit gehabt, Philipp Etters Fehler in Zeiten großer äußerer Bedrohung zu historisieren und seine unbestreitbaren Verdienste mit kritischer Distanz zu würdigen, ohne unentwegt als Verteidiger des rechtskonservativen Politikers fungieren zu müssen.

Anmerkungen:
1 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.
2 Vgl. bspw.: Josef Lang, Hilfe für die stärkste Armee, und Jakob Tanner, «Auch in der Schweiz wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt – und aus diesem tönt es dann genau so glorreich heraus, wie man hineinruft», beide in: WOZ, die Wochenzeitung 20 (2020), 14.05.2020, und (23) 2020, 04.06.2020. Thomas Zaugg, Der Revisionismusvorwurf beendet die Geschichtsschreibung, in: Schweizer Monat 1078, Juli/2020.
3 Martin Pfister, Die Wahl von Philipp Etter in den Bundesrat 1934. Ereignisse, Ideologien, Soziales Umfeld, Freiburg im Üechtland 1995.
4 Olaf Blaschke, Die Anatomie des katholischen Antisemitismus, Eine Einladung zum internationalen Vergleich, in: Ders./Aram Mattioli, Katholischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert. Ursachen und Traditionen im internationalen Vergleich, Zürich 2000, S. 9f.
5 Gerhard Pfister, So formt man eine Gemeinschaft, Tages-Anzeiger, 27.04.2020.
6 Vgl. Jakob Tanner, «Auch in der Schweiz wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt – und aus diesem tönt es dann genau so glorreich heraus, wie man hineinruft», in: WOZ, die Wochenzeitung, 23 (2020), 04.06.2020.

Redaktion
Veröffentlicht am
09.03.2021
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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