A. Althaus: Vom Glück in der Schweiz?

Cover
Titel
Vom Glück in der Schweiz?. Weibliche Arbeitsmigration aus Deutschland und Österreich (1920-1965)


Autor(en)
Althaus, Andrea
Reihe
Geschichte und Geschlechter 68
Erschienen
Frankfurt 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 45,00
URL
von
Sarah Baumann, Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die schweizerische historische Migrationsforschung ist in Bewegung. Nachdem das Forschungsinteresse lange auf den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Migration gerichtet war, sind HistorikerInnen in jüngster Zeit darum bemüht, Migrierende als handlungsmächtige AkteurInnen sichtbar zu machen und ihre Erfahrungen in die Forschung miteinzubeziehen. Andrea Althaus Buch Vom Glück in der Schweiz?, das auf einer an der Albert-Ludwigs-Universität eingereichten Dissertation beruht, leistet einen innovativen Beitrag zu diesem Perspektivenwechsel. Im Zentrum der Studie stehen die mündlichen und schriftlichen Migrationserzählungen von 79 Frauen, die zwischen 1920 und 1965 als Haus- oder Gastgewerbeangestellte aus Deutschland und Österreich in die Schweiz migrierten. Rund 30 000 österreichische und deutsche Frauen arbeiteten in diesem Zeitraum jährlich in Schweizer Haus- und Gastwirtschaften. Althaus holt diese im kollektiven Gedächtnis kaum präsenten Migrationsbewegungen nun aus dem toten Winkel einer auf die italienische Einwanderung fokussierten schweizerischen Migrationsgeschichte. Indem sie den Fokus auf Frauen legt und Geschlecht als zentrale Analysekategorie setzt, erweitert sie diese zudem um eine geschlechtersensible Perspektive.

Die forschungsleitende Frage der Studie zielt auf zwei Ebenen: Anhand erzählter und geschriebener Lebensgeschichten sollen erstens das Wanderungssystem und die Migrationserfahrungen ehemaliger «Schweizgängerinnen» rekonstruiert werden. Althaus versteht dabei Migration selbst als einen «lebensgeschichtlichen Prozess» (S. 12), der nicht nur durch soziale Bedingungen in der Kindheit und im Elternhaus geformt, sondern auch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen vor, während und nach der eigentlichen Migration erinnert und erzählt wird. Methodisch gestützt auf Überlegungen der Oral History, der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung und der historischen Diskursanalyse analysiert Althaus die Migrationserzählungen daher nicht nur auf deren Inhalt, sondern auch auf deren narrative Gestaltung und auf «Vergangenheits- und Selbstkonstruktionen» (S. 28) hin. Zweitens werden die lebensgeschichtlichen Erzählungen über den Einbezug von behördlichen Dokumenten, Unterlagen von Frauenvereinen sowie Zeitungsartikeln historisch kontextualisiert und in einem breiteren ökonomischen, rechtlichen, politischen und diskursiven Rahmen verortet.

Die Autorin veranschaulicht auf sprachlich anregende und analytisch differenzierte Art und Weise, dass akteurszentrierte und geschlechtersensible Perspektiven das Potenzial haben, Migrationsbewegungen neu zu interpretieren. Im zweiten Kapitel zu den migrationspolitischen Rahmenbedingungen bricht Althaus mit einem Masternarrativ, welches Arbeitsmigration ausschliesslich mit männlichen Akteuren verbindet. Ledige Frauen aus Deutschland und Österreich machten zwischen 1920 und 1960 die Mehrheit der Arbeitsmigrierenden in der Schweiz aus. Dies verdeutlicht, dass die Feminisierung der Migration, die von der Forschung bisher erst ab den 1970 Jahren konstatiert wurde, erstens historisch weiter zurückreicht und zweitens nicht, wie oft angenommen, an die Migration von Frauen im Familienverbund gekoppelt war. Ausländische Frauen wurden von staatlichen Behörden und privaten ArbeitgeberInnen gezielt angeworben, um den latenten Personalmangel in Hausdienst und Gastgewerbe auszugleichen. Gleichzeitig waren sie mit fremdenfeindlichen Ressentiments konfrontiert, die sich in einem ebenfalls feminisierten Überfremdungsdiskurs niederschlugen. Weibliche ausländische Hausangestellte wurden nicht nur als wirtschaftliche Konkurrenz zu den Schweizerinnen gesehen, sondern – aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeit und ihrer Nähe zu Schweizer Haushalten, Kindern und Familien – auch als gesellschaftliche Bedrohung des Staates aus seinem «innersten Kern» heraus.

Im Hauptteil der Studie zoomt Althaus in mikrogeschichtlicher Manier auf einzelne Lebensstationen ihrer Protagonistinnen. Durch die dichte Beschreibung wähnt sich die Leserin nahe an den einzelnen Frauen und begleitet diese zunächst in die Kindheit und Jugendzeit und anschliessend, nach dem Entscheid zur Migration und die damit verbundenen Vermittlungsbemühungen und Behördengänge, auf der Reise über die Grenze bis in die schweizerischen Haushalte und Gaststuben und in die detailliert beschriebenen Arbeitsverhältnisse hinein. Abschliessend fragt Althaus nach der subjektiven Deutung von Migration und deren Einordnung im lebensgeschichtlichen Kontext. Ihre Ergebnisse widerlegen einmal mehr eindimensionale Push-Pull-Erklärungen und zeigen auf, dass ökonomische Motive einen von mehreren Beweggründen für Migration darstellen. Die meisten der befragten Frauen erklärten ihren Migrationsentscheid mit dem Bedürfnis, aus dem Elternhaus auszubrechen, sich von gesellschaftlichen Normen zu emanzipieren, zu reisen, ein Abenteuer zu erleben, eine verwehrte Schul- und Berufsbildung nachzuholen und sich weiterzubilden. Als gesellschaftlich akzeptierte Form der Frauenmigration diente ihnen die Arbeit in Schweizer Haus- und Gastwirtschaften als Mittel, um solche Vorhaben zu verwirklichen. Die überwiegende Mehrheit der interviewten Frauen beschreibt ihre Zeit in der Schweiz als «besonders schöne, häufig gar schönste Zeit des Lebens» (S. 353). Diese Deutung von Migration als ein emanzipativer Prozess des Aus- und Aufbruchs und des Selbständigwerdens kann einerseits als ein fruchtbares Gegennarrativ zu Forschungsperspektiven gelesen werden, die Migration in Begriffen von ökonomischer Notwendigkeit, Diskriminierung und Ausgrenzung beschreiben. Andererseits verweist gerade diese abschliessende Deutung auf einen neuralgischen Punkt der vorliegenden Studie. Dieser liegt in einer Norm begründet, die Althaus einleitend selbst beschreibt, nämlich, dass wir, wenn wir unser Leben erzählen, « ein ‘gelingendes Leben’ erzählen, eine bruchlose, homo- gene, in sich konsistente Identität präsentieren können» (S. 43). Dieser normativen Vorgabe folgend werden in Lebensgeschichten Brüche, Umwege und Ambivalenzen narrativ gekittet, geglättet und geklärt, wobei auch Erinnerungen in ständiger Bewegung sind und Lebens- und Migrationserfahrungen je nach Zeitpunkt des Erzählens unterschiedlich gedeutet werden. Althaus reflektiert diese Dimension erinnerter Geschichte allerdings stets mit, indem sie die Migrationserzählungen konsequent im Hinblick auf den biografischen und historischen Kontext interpretiert, was ihr Buch zu einem methodisch wie auch inhaltlich wichtigen Beitrag sowohl zur geschlechtersensiblen Migrationsforschung als auch zur Oral History und historischen Erinnerungsforschung macht.

Zitierweise:
Sarah Baumann: Rezension zu: Andrea Althaus, Vom Glück in der Schweiz? Weibliche Arbeitsmigration aus Deutschland und Österreich (1920 – 1965), Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 204-206.