R. Brändle u.a.: Wissen im Zentrum

Cover
Titel
Wissen im Zentrum : 100 Jahre Zentralbibliothek Zürich.


Autor(en)
Brändle, Rea; Brühlmeier, Markus; Knoepfli, Adrian; Rothenbühler, Verena; König, Mario
Herausgeber
Brändle, Rea; Brühlmeier, Markus; Knoepfli, Adrian; Rothenbühler, Verena; König, Mario
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
circa € 43.00 (DE); circa CHF 48.00 (freier Preis)
von
Eva Maurer, Historisches Seminar: Abteilung für Osteuropäische Geschichte, WWU Münster

Am 28. Juni 1914, als in Sarajevo der folgenschwere Schuss fiel, wurde im Kanton Zürich abgestimmt: Zur Debatte stand die Gründung einer «Zentralbibliothek». Durch die Vereinigung von Stadt- und Kantonsbibliothek mit den Sammlungen weiterer Gesellschaften und Institutionen entstand 1917 auf einen Schlag die weitherum grösste Bibliothek, was dem Selbstverständnis der grössten Schweizer Stadt ebenso entsprach, wie der Name «Zentralbibliothek» den übergreifenden Anspruch der Institution zum Ausdruck brachte.

Zum hundertsten Jahrestag ihrer Gründung liegt nun zur ZB, wie sie auch heute noch kurz heisst, ein Band vor, der als «gedruckte Festschrift und [...] Institutionenporträt aus externer Perspektive» konzipiert wurde (S. 7). Fünf HistorikerInnen beleuchten verschiedene Aspekte: die Bibliothek als Bau und öffentlicher Raum (Rea Brändle), die Geschichte des Katalogs als Herzstück der Bibliothek (Markus Brühlmeier), das Personal (Adrian Knoepfli), die Spezialsammlungen (Verena Rothenbühler) sowie das oft leidige Thema Geld in den Beziehungen zwischen den beiden Hauptträgern, Kanton und Stadt Zürich, und der Bibliothek (Mario König). Dabei stehen die fünf Teile eher als selbständige Erzählungen nebeneinander denn als Kapitel hintereinander. Querverweise zwischen den Teilen fehlen weitgehend, was teils zu kleineren Redundanzen, teils zu späteren Aha- Momenten bei der Lektüre führt. Durch die unterschiedlichen Zugänge gelingt es dem Autorenteam aber, ein vielfältiges Bild der Bibliothek und ihrer Funktionen zu zeichnen. Gewisse Spannungsfelder zeigen sich dabei in unterschiedlichen Kontexten immer wieder. So stand der Wunsch der Professorenschaft, die Bibliothek möge möglichst «universitär» sein, den erklärten modernen Zielen des Gründungsdirektors Hermann Escher, im Sinne der amerikanischen «Public Libraries» auch breiten Kreisen der Bevölkerung zum Selbststudium und zur Weiterbildung zu dienen, teils entgegen. Schon bei der Suche nach einem geeigneten Standort leisteten die Professoren lange Widerstand gegen den Predigerplatz in der dunklen, lärmigen Altstadt und favorisierten einen Ort näher an der Universität, auf dass sie nicht «in die Tiefe hinunter steigen» müssten, was nicht nur topografisch gemeint war (S. 26). Schrittweise fielen zwar die Privilegien für die Professorenschaft wie etwa höhere Ausleihgrenzen dahin, doch die ab den 1960er Jahren immer stärker wachsenden Institutsbibliotheken, deren Gesamtbudget bald das der ZB deutlich übertraf, sorgten dafür, dass viel Literatur eben doch nur den Hochschulangehörigen, nicht allen Interessierten zugänglich war. Auch Eschers frühes Drängen, mit einem Schlagwortkatalog die Wissensgebiete auch für akademisch nicht gebildete Schichten zu erschliessen, wurde von universitären Kreisen abgelehnt: Es entsprach der damaligen Vorstellung, dass Fachleute alle relevanten Autoren eines Gebiets kennen würden und daher nicht auf Schlagworte angewiesen seien. Eschers Einschätzung, dass sich diese Situation mit dem Wissenszuwachs und den neuen Fachgebieten schon bald ändern würde, war jedoch weit realistischer, und sein Beharren auf dem – heute in digitaler Form unentbehrlichen – Schlagwortsystem der Zeit voraus. Die Aufarbeitung der Katalog- und Erschliessungsgeschichte der ZB zeigt nicht zuletzt auch, wie die Systematisierung und Propagierung von Wissen immer wieder auch von ihren medialen Trägern mitbestimmt war – vom Zettelkatalog bis zur «Bibliotheksautomation». Gerade die Entwicklung automatisierter Datenverarbeitung in verschiedenen Bereichen der Bibliothek, der damit verbundenen Hoffnungen und Schwierigkeiten, ist spannend zu lesen: Nicht erst seit der Erfindung des Internets in den 1990er Jahren sind Bibliotheken rapidem technologischem Wandel ausgesetzt, sondern bereits in den 1960er Jahren setzten sich ZB und andere Bibliotheken erstmals mit den Möglichkeiten der neuen Technologien auseinander. Die Suche nach immer wieder neuen, effizienteren und weitreichenderen Möglichkeiten der Aufbewahrung und Bearbeitung von Daten begleitet die Bibliothek also ständig. Gerade in der intensiven Phase der EDV-Adaption zeigten sich aber auch die Schattenseiten des starken Bibliotheks-Föderalismus und der latenten Konkurrenzsituation zwischen der ZB und den Uni-Bibliotheken einerseits sowie der ebenfalls stark angewachsenen ETH-Bibliothek andererseits: Durch das (allerdings nicht nur auf Zürich beschränkte) Beharren auf der Entwicklung und Einführung jeweils eigener EDV-Bibliothekssysteme in den 1980er Jahren, welche nicht nur untereinander inkompatibel waren, sondern auch alle schon bald überholt oder abgeschrieben werden mussten, dauerte es noch Jahre, bevor schliesslich mit einem gemeinsamen Katalogisierungsprogramm im IDS-Verbund sowohl Katalogda- ten ausgetauscht werden konnten als auch die Grundlage für ein (deutsch-)schweizweites Buch-Kuriersystem gelegt werden konnte.

Wie vielfältig die Institution durch ihre Mitarbeitenden geprägt wurde, wird sowohl im Teil über das Personal der Bibliothek deutlich als auch im Beitrag über die Sonder- sammlungen, der zeigt, wie viel hochspezialisierte Arbeit in die kulturhistorisch so bedeutenden Spezialsammlungen investiert werden musste, und wie sehr Einzelpersonen dazu beigetragen haben, dass diese überhaupt für weitere Forschungen sicht- und nutzbar wurden. Die Abschnitte über die während der Zeit des Zweiten Weltkriegs durch in die Schweiz geflüchtete jüdische Wissenschaftler erschlossenen Hebraica werfen allerdings kein uneingeschränkt gutes Licht auf die Bibliotheksleitung, welche sich zwar das Spezialwissen der Flüchtlinge zu Nutzen machte, ihnen aber teils mit einem peinlichen Misstrauen begegnete. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Direktoren treten im Teil über das Thema Geld deutlich hervor, in welchem das Dreiecksverhältnis Stadt-Kanton-Zentralbibliothek beleuchtet wird. Die ZB war 1917 als Stiftung gegründet worden, an die Stadt und Kanton zunächst paritätisch beitrugen (erst seit den 1980er Jahren trägt der Kanton die Hauptlast); dazu kamen das Stammgut der Bibliothek inklusive eigener Reservefonds sowie mehr oder weniger grosszügige Spenden – immer aber, so das Fazit, blieb die Bibliothek unterfinanziert. Dass die Bibliothekskommission, die der ZB offiziell vorsteht, sich oft weniger als steuernder und strategisch leitender Verwaltungsrat denn Durchsetzer städtischer und kantonaler Sparvorgaben verstand, war ein Teil des Problems. Andererseits wird sehr deutlich, wie fatal es war, dass sich die zwischen den 1930er und den 1950er Jahren amtierenden Bibliotheksdirektoren nicht aktiv für eine bessere Finanzierung und Ausstattung der Bibliothek eingesetzt hatten, wodurch letztere sowohl in Sachen Bestand als auch in der Ausstattung ihre führende Position im schweizerischen Bibliothekswesen verlor. Hohes persönliches Engagement für die Bibliothek war unabdingbar, aber angesichts der häufigen Verzögerungstaktik und der oft abrupten, kaum kommunizierten finanziellen Kurswechsel von Seiten von Stadt und Kanton äusserst zermürbend, wie angesichts der vielen Diskussionen, die etwa der engagierte und umtriebige Paul Scherrer (Direktor 1963–1971) zu führen hatte, deutlich wird – oder auch bei den jahrzehntelangen Debatten um den seit den Nachkriegsjahren angedachten, aber erst in den 1990ern realisierten Erweiterungsbau.

Insgesamt gibt der Band nicht nur einen vielschichtigen Einblick in die Institution ZB, sondern bietet über die Geschichte des Hauses hinaus Perspektiven auf die Entwicklung des schweizerischen Bibliothekswesens im 20. Jahrhundert. Die reiche Bebilderung mit ausgewählten Schätzen der Zentralbibliothek zeigt, gerade auch zusammen mit dem Teil über die Spezialsammlungen, die Breite und Tiefe der Kollektionen exemplarisch auf. Ein grosser Teil des Bandes stützt sich primär auf die ZB-eigene Geschichte in Form des internen Archivs, der Jahresberichte und anderer eigener Publikationen; Mitarbeitende wurden zwar wohl befragt, kommen aber selten länger selbst zu Wort. Dabei bleibt der Fokus naturgemäss auf dem Haus und seiner inneren Entwicklung. Es ist daher bereichernd, dass der fünfte Teil über die Debatten rund um die Bibliotheksfinanzierung die Perspektive öffnet und die Geschichte der ZB in grössere Kontexte einordnet: in die Entwicklung der Schweizerischen (Hochschul-)bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, in die Konjunkturen der Bildungspolitik und eines vielleicht spezifisch schweizerischen Antiintellektualismus. Königs knappe Erkenntnis «Die Bibliothek war nicht zu teuer, sie litt an mangelnder Wertschätzung» (S. 252) lässt sich denn auch auf viele andere Bibliotheken übertragen. Aber sein abschliessender Ausblick auf die Herausforderungen der Bibliotheken betont deren Relevanz als physische Orte der Informationssicherung und -vermittlung: auch und gerade im Zeitalter der «Flüchtigkeit digitaler Medien» (S. 280).

Zitierweise:
Eva Maurer: Rezension zu: Rea Brändle, Markus Brühlmeier, Adrian Knoepfli, Mario König, Verena Rothenbühler, Wissen im Zentrum. 100 Jahre Zentralbibliothek Zürich, Zürich: Chronos Verlag, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 198-200.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 198-200.

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