P. Germann: Laboratorien der Vererbung

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Titel
Laboratorien der Vererbung. Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz 1900–1970


Autor(en)
Germann, Pascal
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 49,90
URL
von
Regula Argast, Sekundarstufe 1, Pädagogische Hochschule Bern

Der Zürcher Historiker Pascal Germann legt mit Laboratorien der Vererbung ein Grundlagenwerk zur Geschichte der schweizerischen Rassenforschung und Humangenetik zwischen 1900 und 1970 vor. Erstmals werden hier die engen Verbindungen zwischen Rassenanthropologie, Eugenik und Humangenetik in der Schweiz sowie deren transnationale Verflechtung mit dem europäischen Kolonialismus und der deutschen, insbesondere nationalsozialistischen Rassenhygiene detailliert nachgezeichnet.

Die im Wallstein Verlag erschienene Dissertation ist in fünf Kapitel gegliedert und beginnt mit einem Überblick über die 1921 gegründete und mit der Universität Zürich eng verbundene Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene. Laut Reglement verfolgte die hoch dotierte Stiftung des verstorbenen Privatiers Julius Klaus den Zweck, «alle auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Bestrebungen» zu fördern, «deren Endziel auf die Vorbereitung und Durchführung praktischer Reformen zur Verbesserung der weissen Rasse gerichtet» sei (S. 38). Tatsächlich bestand in der Folge eine enge personelle, institutionelle und ideelle Nähe zur Rassenanthropologie und Rassenhygiene, wie Germann an zahlreichen Beispielen, besonders aber am ersten und bis ins Jahr 1962 amtierenden Stiftungspräsidenten Otto Schlaginhaufen, Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, nachweist.

In Kapitel zwei und drei bewertet Germann zwei zentrale Fragen der schweizerischen Wissensgeschichte neu. Zunächst ist dies die Frage nach der Wirkmacht der Rassenanthropologie helvetischer Prägung. Nachdem Christoph Keller 1995 mit seiner Studie zu Schlaginhaufen historiografisches Neuland beschritten hatte,1 deutete die jüngere Geschichtsschreibung die Schweizer Rassenforschung als ein in die Irre führendes Instrument auf der Suche nach einer nationalen Identität.2 Diesem Narrativ stellt Germann eine transnationale Verflechtungsgeschichte gegenüber. So zeigt er die herausragende Bedeutung von Zürcher Rassenanthropologen und ihrer spezifischen Forschungsmethoden für die «wissenschaftliche [...] Fundierung von Rassendifferenzen» (S. 35) sowie deren Transfer in koloniale Kontexte und die nationalsozialistische Diktatur: In den Fussstapfen seines Lehrers Rudolf Martin führte etwa Schlaginhaufen 1907 bis 1909 im Rahmen der Deutschen Marineexpedition und unter dem Schutz deutscher Polizeisoldaten umfangreiche Messungen an den Einwohnern Melanesiens durch. Ausserdem kaufte er Schädel unklarer Herkunft zu Forschungszwecken, war zwischen 1934 und 1936 Vizepräsident der International Federation of Eugenic Organizations, die unter der Präsidentschaft des Rassenhygienikers Ernst Rüdin zunehmend von nationalsozialistischen Wis- senschaftlern kontrolliert wurde, oder liess SS-Hauptsturmführer Bruno Beger, Forscher der SS-«Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.», «Haar- und Augenfarbentafeln» zukommen, die möglicherweise 1943 im Konzentrationslager Auschwitz bei anthropometrischen Messungen an Juden vor deren Ermordung eingesetzt wurden (S. 147).

Im dritten Kapitel bewertet Germann das Verhältnis zwischen Schweizer Eugeni- kern und der nationalsozialistischen Rassenhygiene neu. Dabei kann der Autor an Ergebnisse anknüpfen, die im Zuge des Nationalen Forschungsprogramms 51 «Integration und Ausschluss» seit 2003 sowie in Nachfolgeprojekten erarbeitet wurden.3 Entgegen den Ergebnissen von Hans Jakob Ritter, der auf eine zunehmende Abwendung von der Rassenhygiene der in Basel wirkenden Eugeniker seit den ausgehenden 1930er Jahren verweist,4 vertritt Germann die These, dass Schweizer Humangenetiker auch nach 1939 oft als «Alliierte der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik» (S. 34) fungierten. Zudem seien für den Aufstieg der medizinischen Genetik in der Schweiz gerade die engen Beziehungen zur deutschen, rassenhygienisch orientierten Humangenetik von zentraler Bedeutung gewesen. Ausführlich dargelegt wird dies unter anderem am Beispiel des renommierten Zürcher Mediziners, Humangenetikers und Stammbaumforschers Ernst Hanhart, der das 1934 in Kraft getretene NS-Gesetz «zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» öffentlich befürwortete.

Das vierte Kapitel widmet sich der schweizerischen Blutgruppenforschung zwischen 1940 und 1970. Darin zeigt Germann, wie in den vom Schweizerischen Nationalfonds und der Julius Klaus-Stiftung geförderten Projekten die bisher voneinander getrennte Rassenanthropologie und Humangenetik zusammengeführt wurden. So forschten etwa der Genetiker Ernst Hadorn, der Mediziner Hans Rudolf Schinz und Otto Schlaginhaufen nach 1945 an Blutproben von 275’000 Schweizer Soldaten gemeinsam zur geografischen Verteilung der «Blutgruppengene» (S. 309) in der Schweiz. Allerdings verschwand der Rassebegriff ab der Mitte der 1950er Jahre aus der Forschung, was Germann auf Dynamiken innerhalb des Forschungsprozesses, und nicht etwa auf einen Schweizer Sonderweg oder einen möglichen Antirassismus der Forschenden zurückführt. Die Mitte der 1950er Jahre markiere daher keine Zäsur, sondern eine Zeit des Übergangs von der Rassenanthropologie zur Populationsgenetik, die sich freilich nie ganz von Konzepten der Rassenforschung habe lösen können. Und obwohl die Julius-Klaus-Stiftung 1971, wie im abschliessenden fünften Kapitel festgehalten wird, den Begriff der «Rassenhygiene» aus ihrem Namen strich und Humangenetiker sich zunehmend von der Eugenik distanzierten, lebten solche Deutungsmuster im Zuge von Chromosomenanalyse, Pränataldiagnostik und genetischer Beratung in neuem Gewand fort.

Mit sicherer Hand führt Pascal Germann die Lesenden durch die komplexen Verflechtungen und Untiefen der historischen Rassenforschung, Eugenik und Humangenetik. Das Buch überzeugt durch die breit abgestützte Quellenanalyse, die theoretisch-methodische Vielfalt und die argumentative Klarheit. Trotz des Detailreichtums ist jede Seite spannend und eröffnet neue Einsichten. Germann ist es gelungen, solides Handwerk mit intellektueller Hingabe, Kreativität und Engagement zu verbinden.

1 Christoph Keller, Der Schädelvermesser. Otto Schlaginhaufen – Anthropologe und Rassenhygieniker. Eine biographische Reportage, Zürich 1995
2 Guy P. Marchal, National Historiography and National Identity. Switzerland in Comparative Perspective, in: Stefan Berger, Chris Lorenz (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, New York 2008, S. 311–338.
3 Vgl. dazu stellvertretend: Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden, Hans Jakob Ritter, Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz 1900–1960, Zürich 2013.
4 Hans Jakob Ritter, Psychiatrie und Eugenik. Zur Ausprägung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie, 1850–1950, Zürich 2009.

Zitierweise:
Regula Argast: Rezension zu: Pascal Germann, Laboratorien der Vererbung. Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz 1900–1970, Göttingen: Wallstein Verlag, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 193-195.