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Titel
Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Wolfrum, Edgar
Erschienen
Stuttgart 2017: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
447 S., 32 Abb.
von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, ist bisher vor allem mit erhellenden Werken zur Vorgeschichte und Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bekannt geworden. Nun hat er «eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts» vorgelegt, eine Weltgeschichte, die den Anspruch erhebt, nicht nur die dunklen, sondern auch die hellen Seiten sowie möglichst viele Schattierungen dieses Jahrhunderts zu zeigen. Damit will er es «umfassender und alles in allem vielleicht gerechter deuten» (S. 8) als bisherige vergleichbare Darstellungen. Auf die Welt blickt er dabei auf- grund der eigenen Standortgebundenheit aus deutscher und eurozentrischer Sicht.

Für sein Vorhaben wählt Wolfrum vielfältige Zugänge. In vier Teilen behandelt er, orientiert an den klassischen Bereichen der Sozialgeschichte, zentrale Fragen politischer Strukturen in der Welt («Die Väter und Mütter aller Dinge»), gesellschaftliche Rahmenbedingungen («In den Dramen des Lebens»), Kultur und Lebensweise («Vom Wahren, Schönen und Guten») sowie wirtschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen («Die Ökonomie als Schicksal»). Gestützt auf den jeweiligen Forschungsstand referiert Wolfrum die jeweiligen Aspekte und lässt die Leserinnen und Leser an seinem Blick auf die Welt des 20. Jahrhunderts teilhaben. Immer wieder betont er die Ambivalenzen dieser Zeit. Nach den grossen Kriegen des Jahrhunderts hat es zwar einen Aufschwung für Abrüstung und Friedensbewegung gegeben, aber zugleich sind neue Kriegsformen und Terrorismus erstarkt. Demokratien haben sich vielerorts durchgesetzt, autoritäre Strukturen sind allerdings keineswegs verschwunden. Erheblichen Verbesserungen im Gesundheitswesen stehen Missbräuche und Gefahren der medizinischen Errungenschaften gegenüber. In der «Gleichzeitigkeit von Migration und Migrationsbeschränkung» in Europa ist einer «der grössten Widersprüche der Globalisierung» zu sehen (S. 169). Die Menschenrechtsbewegung hat ein Bewusstsein dafür geschaffen, «dass Genozide um jeden Preis zu verhindern seien» (S. 195), doch ständig kommt es zu Rückschlägen. Fortschritte im Bildungswesen und bei der Gleichberechtigung von Frauen haben zahlreiche Ungleichheiten nicht aufgehoben. Entfaltungen künstlerischer Kreativität haben ihren Widerpart in repressiven Eingriffen oder in der Unterordnung der Kunst unter den Markt. Das Wachstum der Weltwirtschaft hat viele Probleme gelöst, aber der Hunger ist für viele Menschen noch nicht überwunden und die Ressourcen sind überfordert. Die nachteiligen Folgen des «Fortschrittsglaubens» (S. 359) sind offensichtlich. Doch nach wie vor wird in der Ökonomie wie beim Klima- und Naturschutz oder in anderen Bereichen, die in die Krise geraten sind, häufig auf «Technikrevolutionen» (S. 347) gesetzt. Vorstellungen einer «gottähnlichen Machbarkeit» (S. 351) beherrschen immer noch viele Menschen.

So kommt Wolfrum in seinem Schlusskapitel «Ins 21. Jahrhundert – Welt aus den Fugen?» zu einem zwiespältigen Fazit. «Das 20. Jahrhundert war das schlimmste Jahrhundert von allen Jahrhunderten, und es war das beste von allen» (S. 373). Die «Hypotheken» (S. 372) für das neue Jahrhundert sind unübersehbar. Wolfrum will «Gefahren betonen und zugleich Hoffnungen hegen». Mit Marc Bloch fragt er abschliessend: «Wozu dient eigentlich Geschichte?» Im Anschluss an Jacob Burckhardts Ausspruch, Geschichte «mache nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer», folgert er, Geschichte gebe keine Handlungsanweisungen, aber «kann dafür sensibilisieren, auch mit neuen Strukturen umzugehen» (S. 376).

Wolfrums «andere Geschichte» ist ein überaus anregendes Buch. Der Text ist flüssig geschrieben, sinnvoll aufgebaut, mit guten Überleitungen versehen und durch die kurzen Unterkapitel sehr übersichtlich. Auch wenn man – kein Wunder angesichts der Fülle der Themen – manche Punkte anders gewichten könnte, beeindruckt Wolfrums Fähigkeit, vielschichtige Vorgänge und Ereignisse überzeugend zusammenzufassen und dabei differenziert zu argumentieren. So kann er auch die Probleme, die sich aufgrund der Entwicklungen im 20. Jahrhundert zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen, scharf herausarbeiten und Anstösse für die weitere Diskussion geben, die sich etwa um folgende Punkte drehen könnte: Reichen ein verstärkter Natur- und Kulturlandschaftsschutz und eine nachhaltige Ökonomie, oder müssen wir uns nicht mit allen Mitteln von einer Wachstumswirtschaft befreien, um die Erde vor dem drohenden Untergang zu retten? Welches Natur- und welches Menschenbild ist angesichts dieser Gefahr angemessen? Welche Einsichten und Folgerungen vermittelt das 20. Jahrhundert, um Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Menschen in der Welt – einschliesslich Bildung und Kunst – sowie zugleich ein Bewusstsein der Gefährdungen zu erreichen? Wie können Erkenntnisse aus bisherigen Bemühungen dazu beitragen, eine neue Weltordnung zu schaffen, in der eine Dachorganisation in wesentlichen Fragen nicht derart hilflos ist wie heute die UNO? Und in welcher Weise helfen uns Erfahrungen aus der Geschichte, um Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik, deren Umsetzung nicht aufzuhalten ist, in Bahnen zu lenken, die nicht mit ihrem «gottähnlichen Machbarkeitsanspruch» die Erde und die Menschheit zerstören? Mit diesen und ähnlichen Fragen, die sich nach der Lektüre der «Welt im Zwiespalt» aufdrängen, zeigt Wolfrum eindringlich, wie Geschichte und Gegenwart zusammenhängen.

Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension zu: Edgar Wolfrum: Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Klett-Cotta, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 189-190.