J. Auderset u.a.: Rausch & Ordnung

Cover
Titel
Rausch & Ordnung. Eine illustrierte Geschichte der Alkoholfrage, der schweizerischen Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (1887–2015)


Autor(en)
Auderset, Juri; Moser, Peter
Herausgeber
Eidgenössische Alkoholverwaltung (EAV); Bundesamt für Bauten und Logistik
Erschienen
Bern 2016: Eidgenössische Alkoholverwaltung Bern; Bundesamt für Bauten und Logistik
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
38 CHF
URL
von
Hasso Spode, IfS und CMS/ZTG, Philosophische Fakultät (LU Hannover) und Historisches Archiv zum Tourismus (TU Berlin)

Das opulente Werk stellt quasi das Vermächtnis der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (EAV) dar, eine finale Festschrift, bevor die altehrwürdige Behörde im Rahmen der geplanten Revision des Alkoholgesetzes zu einer Abteilung der Zollverwaltung degradiert werden soll. Neben der EAV waren auch das Bundesamt für Bauten und Logistik und das Archiv für Agrargeschichte an dem Projekt beteiligt; seine Ausführung oblag den Historikern Peter Moser und Juri Auderset, Leiter beziehungsweise Mitarbeiter dieses Archivs. Herausgekommen ist ein sorgfältig recherchierter und aufwendig gestalteter Prachtband, der als «Coffeetable-Book» einen Design-Preis einheimste. Eher unüblich für das Kaffeetisch-Genre wurde aber zum Glück auf einen wissenschaftlichen Apparat nicht verzichtet, im Gegenteil: Online wird zusätzlich sogar eine Auswahl digitalisierter Primärquellen angeboten.

Die Autoren betonen ihren Anspruch, anstatt blosse «Institutionengeschichte» zu betreiben, «die Sozial- und Kulturgeschichte der Alkoholfrage in der Schweiz durch das Prisma» der EAV zu betrachten und hierbei (offenbar im Sinne der Annales) eine «Synthese» zu erstellen (S. 12 und 16). Ein vielversprechender Ansatz. Der Terminus «Alkoholfrage» führt hier allerdings in die Irre, war er doch das Etikett einer historisch spezifischen sozialen Konstruktion: das Schlagwort der im späten 19. Jahrhundert einsetzenden transnationalen Thematisierungskonjunktur des Alkohols. Als diese Konjunktur abebbte, spätestens im Gefolge des Zweiten Weltkriegs, hatte sich mit der Problemkonstruktion auch der Begriff «Alkoholfrage» verflüchtigt. Die Darstellung führt indes bis in die jüngste Vergangenheit, hätte also einen abstrakteren Oberbegriff verdient.

Sie beginnt mit dem Aufkommen eben jener «Alkoholfrage» in der Schweiz. Diese wurde (wie überall in Europa, sei ergänzt) zunächst als eine Art Unterabteilung der «Sozialen Frage» im Kontext der Industrialisierung konzipiert. Nach heftigen Debatten über die föderalen, ökonomischen, ordnungs- und gesundheitspolitischen Folgen wird 1887 mit dem Alkoholgesetz ein Branntweinmonopol eingeführt und zu dessen Umsetzung die EAV gegründet. Hierbei war die Schweiz wegweisend (vergleichbare Effekte, übrigens, hatte freilich die im selben Jahr von Bismarck durchgesetzte Branntweinfabrikationssteuer, die bis in die Weimarer Jahre ohne Monopolverwaltung auskam). Über die Festlegung von Mengen und Preisen regulierte das Alkoholgesetz beziehungsweise die EAV den Binnenmarkt. Das Gesetz betraf allerdings nicht, wie man nach heutigem Sprachgebrauch denken könnte, sämtliche Alkoholika, sondern nur die Kartoffel- und Getreidebrände; für Spirituosen aus anderen Grundstoffen galten (wie in Deutschland etc.) Sonderregelungen, und vor allem blieben Bier, Wein und Most ausgenommen, wollte man doch (wie in Dänemark etc.) Hochprozentiges tendenziell durch Vergorenes substituieren. Und genau wegen dieser Zielsetzung geriet das Alkoholgesetz um 1900 massiv unter Beschuss: Gegen diesen «mässigen Standpunkt», wie er vom langjährigen EAV-Direktor Milliet vertreten wurde (und zwar im Einklang mit dem einflussreichen Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke), regte sich wütender Protest seitens einer Schar lebensre- formerischer «abstinenter» Wissenschaftler, die Alkoholika in jeglicher Form als den «all- erschlimmsten Feind» der Menschheit ausgemacht hatten und entsprechend die Totalprohibition forderten. Ein Statistikkrieg brach aus, wobei Milliet klagte, viele Zahlen seien nur dem «Widerstreit philanthropischer und wirtschaftlicher Interessen» geschuldet (S. 28) – was ja, etwa mit Blick auf die Tabakpolitik, höchst aktuell klingt. Ultimatives Argument seiner Gegner war der Erhalt der «Rasse». Das eugenische Gedankengebäude (das bekanntlich in den 1930er Jahren in vielen Ländern umgesetzt werden sollte), in dem der Alkohol weniger ein soziales als ein biologisches Problem war, wird hier eher beiläufig und auf recht schmaler Literaturbasis angesprochen (S. 51). Dieser Geburtsfehler der Suchtforschung bleibt mithin etwas unterbelichtet. Breiten Raum hingegen nimmt das Produktionsregime des Industriealkohols ein, die zweite grosse Aufgabe der EAV; da dies in das Gebiet der Wirtschaftsgeschichte, nicht der annoncierten Sozial- und Kulturgeschichte, fällt, möchte ich es bei einem Hinweis auf die sorgfältige Darstellung dieses Themenstrangs belassen (zumal es mir dazu an Expertise mangelt). Zurück also zum Trinkalkohol: Hier schlug das 1908 eingeführte Absinthverbot hohe Wellen (wie übrigens auch in Belgien 1905, Frankreich 1915 etc.); der «Absinthismus» ist ein Paradebeispiel der Wirkungsmacht einer erfundenen Krankheit – erst unlängst wurden die Verbote europaweit aufgehoben. Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen die alkoholpolitischen Debatten an Schärfe ab; in den Fokus rückten agrar- und ernährungspolitische Fragen, in der Folge wurde zum Beispiel die Obstbrennerei ebenfalls der EAV unterstellt. Den grössten Raum der chronologischen Darstellung nehmen dann die Jahre 1945 bis 2015 ein. In institutioneller und politischer Hinsicht gab es gravierende, spannende Umbrüche – aus «synthetischer» beziehungsweise mentalitätshistorischer Sicht wurden die basalen Weichen im Umgang mit Alkohol aber bereits in den Dekaden um 1900 gestellt.

Ich kann hier daher zum Fazit kommen: Ungemein quellengesättigt, liefert der schön und solide gemachte Band wesentliche Erkenntnisse über eine hoch interessante Institution und deren politische Agenda; Spezialisten können zudem den wertvollen Quellenanhang nutzen. Mit Blick auf den Anspruch einer generellen Sozial- und Kulturgeschichte des Alkohols (und eben nicht der «Alkoholfrage») hätte es der Untersuchung allerdings gutgetan, sich nicht so bevorzugt auf Vorarbeiten aus schweizerischer Feder zu stützen und stattdessen auf einer breiteren und gründlicher analysierten Literaturbasis sowohl die kulturhistorisch-«synthetischen» als auch die transnational-vergleichenden Aspekte (die ich versucht habe, hier anzudeuten) noch deutlicher herauszuarbeiten. Letzten Endes ist eben doch primär eine quellengeleitete Institutionengeschichte herausgekommnen. Doch dies schmälert die prinzipiellen Verdienste des Bandes nicht: ein Muss für alle, die mehr über die eidgenössische Alkoholpolitik wissen wollen.

Zitierweise:
Hasso Spode: Rezension zu: Juri Auderset, Peter Moser: Rausch & Ordnung. Eine illustrierte Geschichte der Alkoholfrage, der schweizerischen Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (1887–2015), Bern: Bundespublikationen, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 187-188.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 187-188.

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