A. Bodenheimer (Hrsg.): «Nicht irgendein anonymer Verein ...»

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Titel
«Nicht irgendein anonymer Verein ...». Eine Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich


Herausgeber
Bodenheimer, Alfred
Erschienen
Zürich 2012: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
336 S.
von
Marlen Oehler Brunnschweiler, Geschichte, Universität Zürich

Die Israelitische Cultusgemeinde Zürich ist heute die grösste jüdische Gemeinde der Schweiz. Zu ihrem 150. Geburtstag hat sie sich ein Buch geschenkt, in dem die bewegte Geschichte der ICZ nacherzählt wird. In den 150 Jahren seit der Gründung der Gemeinde im Jahr 1862 habe es immer wieder etwas anderes bedeutet, «nicht irgendein anonymer Verein» zu sein, betont der Verfasser und Herausgeber des Bandes Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums in Basel. Mitautorinnen und -autoren sind Sabina Bossart, Daniel Gerson, Stefanie Mahrer und Erik Petry. Sie alle waren bei Erscheinen des Buches am Zentrum für Jüdische Studien in Basel tätig.

Die Geschichte von der Gründung der ICZ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erzählt Daniel Gerson. Er beginnt seine Ausführungen mit den bewegten Debatten im Kantonsparlament Ende der 1850er Jahre, in denen die rechtliche Gleichstellung der Juden im Kanton Zürich gefordert wurde. Am 3. März 1862 wurde das Emanzipationsge- setz vom Kantonsrat angenommen. Nur kurze Zeit später wurde die Israelitische Cultusgemeinde Zürich von zwölf Männern gegründet. Gerson schildert, wie die Infrastruktur (Friedhöfe, Synagoge) ausgebaut wurde und er erzählt von den internen Auseinandersetzungen in der Frühphase der Gemeinde. Wie verbindet man die verschiedenen Strömungen von Liberalen und Orthodoxen, von Traditionalisten und Reformern in einer Einheitsgemeinde? Gegen aussen hin wollten die «ICZ-Pioniere» eine Gemeinde gründen, die «dem aufgeklärt liberalen Zeitgeist verpflichtet war» (S. 27). Aber im Innern waren die weltanschaulichen Differenzen bald zu gross: 1895 kam es zur Spaltung. Ein Teil der Orthodoxen, denen die Reformtendenzen zu weit gingen, verliessen die ICZ und gründeten die Israelitische Religionsgesellschaft Zürich (IRG). Daniel Gerson erzählt in seinem Kapitel auch von dem diskriminierenden Umgang mit den ostjüdischen Einwanderern sowie der schweren Identitätskrise, in die die Einheitsgemeinde mit dem Aufkommen des Zionismus stürzte. Thema sind auch die äusseren Anfeindungen, mit denen die Gemeinde Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert waren. Dazu gehörten die wüsten judenfeindlichen Debatten, die die Volksinitiative zur Einführung des Schächtverbots von 1893 begleiteten. Die grosse Differenz zwischen der formalrechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bürger und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz war geblieben.

Den nächsten Abschnitt der Geschichte der ICZ hat Erik Petry verfasst: Darin enthalten sind die turbulenten Entwicklungen während der beiden Weltkriege und der Zwischenkriegszeit. Die Wirtschaftskrise traf die kleine Gemeinschaft an der Limmat mit doppelter Wucht. Die Arbeitslosigkeit stieg unter der jüdischen Bevölkerung stark an, und die grosse Zahl von Flüchtlingen und Migranten, die sich an die Armenpflege der ICZ wandten, zwangen den Vorstand, eine eigene «Fürsorgekommission» einzurichten. Zum Gegenstand von Petrys Ausführungen gehören auch der sich verstärkende äussere Druck auf die jüdische Gemeinde und die kontrovers geführten internen Debatten, wie man auf die Anfeindungen reagieren soll. Die jüdische Gemeinschaft empfand sich noch immer nur als geduldete Gruppe in der Schweiz, die auf keinen Fall auffallen und damit antisemitische Reaktionen provozieren wollte. Von einem ähnlichen Dilemma zeugt der Umgang der ICZ mit dem Zionismus. In aller Regel wurden Motionen, die sich für die Unterstützung des Palästinaaufbaus stark machten, von den Delegierten der ICZ abgelehnt. Zu sehr fürchtete man den Vorwurf der doppelten Loyalität, man könne nicht «mit einem Tuches (Hintern) auf zwei Chassenen (Hochzeiten) sein», argumentierte ein Votant (S. 108). Neutralität war oberstes Gebot. Ab 1933 stand die ICZ ganz im Bann der Flüchtlingsarbeit, die die jüdischen Gemeinden der Schweiz hoffnungslos überforderte: Zum einen mussten sie die gesamten Kosten der jüdischen Flüchtlinge alleine tragen, zum anderen fürchtete man zu viel Solidarität, da man gerade in diesen turbulenten Krisenjahren nicht zu sehr als «Juden», sondern als «Schweizer» auftreten wollte.

Zentrale Themen während der Kriegsjahre waren die Angst vor einem deutschen Angriff und die zusehends untragbare Last der Flüchtlingsarbeit. Petry erzählt, wie die ICZ darum auch Jüdinnen und Juden verstärkt und durchaus aggressiv zum Beitritt in die Gemeinde aufforderte, da Nichtmitglieder auch keine Steuern zahlten, was als höchst unsolidarisch empfunden wurde.

Die Nachkriegsjahre bis in die Mitte der 1970er Jahre hinein behandelt Stefanie Mahrer. Anschaulich schildert sie die Geschichte der ICZ in ihrem Suchen nach einer neuen Rolle. Entscheidende Themen in diesem Kapitel sind die Haltung der ICZ zum neu gegründeten Staat Israel, die anhaltend intensive Flüchtlingsbetreuung, die die Gemeinde auch nach dem Krieg finanziell stark belastete, sowie das verstärkte Engagement in der Jugendarbeit. An den Fragen der Jugendarbeit entzündeten sich aber manche Debatten, die die Spannungen um die religiöse Ausrichtung der Gemeinde auch in der Nachkriegszeit deutlich machten.

Einigen Konflikt bot auch die Frage nach der Haltung zum neu gegründeten Staat Israel. Zum Beispiel wollten die Zionisten in der ICZ den Unabhängigkeitstag Israels jeweils feierlich begehen, der grosse Rest inklusive Vorstand aber verhinderte dies bis 1956 erfolgreich. Immer noch fürchtete man in der Gemeinde den Vorwurf der doppelten Loyalität. Mahrer beschreibt die Haltung gegenüber Israel als «freundliche Zurückhal- tung» – zumindest bis Mitte der 1950er Jahre. Dann folgte ein Kurswechsel hin zu einem engagierteren Bekenntnis zum Staate Israel. Stark unterstützt wurde die neue Haltung von den Jugendbünden. Entscheidend war in diesen Jahren auch die Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung in der Schweiz gegenüber Israel, die sich vor allem während des Sechstagekrieges solidarisch zeigte mit dem jungen Staat.

Sabina Bossert und Alfred Bodenheimer erzählen schliesslich von der letzten Etappe der ICZ-Geschichte, den Jahren 1977 bis 2011. Die Anfänge dieser Zeitspanne sind geprägt von der charismatischen Führung unter Präsident Sigi Feigel. Die Gemeinde erlebte eine kulturelle Blüte und zusehends öffentliche Beachtung, was auch mit dem politischen Bemühen um eine öffentlich-rechtliche Anerkennung im Kanton zusammenhing.

Eine einschneidende Entwicklung in der jüngsten Phase der ICZ-Geschichte war der Konflikt zwischen dem religiösen und liberalen Flügel innerhalb der Gemeinde, der 1978 zur Gründung der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch führte. Als eigentlichen «Schock für die Schweizer Juden» bezeichnen die Autoren die Mitte der 1990er Jahren geführten öffentlichen Debatten rund um die nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust- Opfern auf Schweizer Banken. Die historische Aufarbeitung verwandelte sich phasenweise zu einer wüsten Debatte über «die Juden». Die ICZ wurde in den Strudel der Ereignisse hineingezogen, als Präsident Werner Rom zum Ansprechpartner von Wachtmann Meili wurde, der sensible Akten der Schweizerischen Bankgesellschaft vor dem Schreddern bewahrt hatte. Ein eigentlicher Meilenstein in der Geschichte der ICZ war schliesslich die öffentlich-rechtliche Anerkennung der jüdischen Gemeinde durch das Zürcher Stimmvolk im Februar 2005.

Die Autorinnen und Autoren des Buches sowie die Auftraggeberin hatten nie im Sinn, eine «Jubelschrift» zum 150-jährigen Geburtstag der ICZ zu verfassen. Das schön gestaltete Buch in grauem Leinengewand ist für ein breites Publikum gedacht, man wollte «eine Geschichte der ICZ» informativ und unterhaltend zugleich erzählen. Das ist den Autorinnen und Autoren vollends gelungen. Da sich das Buch aber auch an ein wissen- schaftliches Publikum richtet, wäre in einzelnen Teilen (Zionismus, Weltkriege, Antisemitismus) eine etwas konsequentere Einbettung in den neusten Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung wünschenswert gewesen. Es wird nahe an den Quellen erzählt, aus Sitzungsprotokollen, Geschäfts- und Jahresberichten der ICZ zitiert. Diese Quellennähe legt viele schöne Anekdoten und illustrative Beispiele offen, die die 150-jährige Geschichte der ICZ greifbar, anschaulich und lebendig machen.

Zitierweise:
Marlen Oehler Brunnschweiler: Rezension zu: Alfred Bodenheimer (Hg.): «Nicht irgendein anonymer Verein ...». Eine Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 182-184.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 182-184.

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