D. Tröhler u.a. (Hrsg.): Verfassung, Bürgerschaft und Schule

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Titel
Verfassung, Bürgerschaft und Schule / Constitution, citoyenneté et école.


Herausgeber
Tröhler, Daniel; Tosato-Rigo, Danièle; Crousaz, Karine; Hürlimann, Katja
Reihe
traverse. Zeitschrift für Geschichte - Revue d’histoire 2017/1
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
von
Béatrice Ziegler, Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik am ZDA, PH FHNW

Daniel Tröhler, Danièle Tosato-Rigo, Karine Crousaz und Katja Hürlimann zeichnen verantwortlich für das Heft zur Schulgeschichte unter dem Titel «Verfassung, Bürgerschaft und Schule». Schulgeschichte bearbeiten sie dabei als Teil der Kulturgeschichte, indem sie danach fragen, welchen Zwecken das Wissen, auf das in der Schule abgezielt wird, in der Gesellschaft dienen soll. Dieses zentrale Interesse, so halten sie in ihrem Editorial fest, stellt aber auch eine Verbindung mit der politischen Geschichte her, die sie mit den beiden Begriffen «Demokratie» und «Macht» konkretisieren. Die von der Herausgeberschaft betreuten Beiträge sollen sich so auf eine zentrale Frage richten: «Welche (ideale[ n]) BürgerInnen wollen die Schulcurricula formen?»(S. 9)

Die acht Beiträge befassen sich mit unterschiedlichen Themen aus der Schweiz, Luxemburg und Frankreich. Während die vier Beiträge aus der Schweiz Entwicklungen des 19. Jahrhunderts behandeln, thematisieren die drei luxemburgischen Texte und der französische Beitrag Sachverhalte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Themen, die die acht Beiträge bearbeiten, geben eine breite Palette von Beispielen, an denen sich die Frage nach dem jeweiligen Zweck der Schulbildung diskutieren liesse. Nicht bei allen ist allerdings die Verbindung zwischen der eigenen Fragestellung und dem Fokus des Themenheftes gleich offensichtlich: Das Editorial, welches knapp verdeutlicht, wie die Herausgeberinnen und Herausgeber denselben in den einzelnen Texten wiedererkennen, ist zwar hilfreich. Dennoch hätte man sich eine etwas ausführlichere Diskussion der Grundthematik in der Einleitung gewünscht.

Als inhaltliche Gemeinsamkeit der meisten Beiträge kann gesehen werden, dass die schulische Bildung in der Moderne offenbar doch zumeist auf das Zugehörigkeitsgefühl künftiger Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat beziehungsweise zu ihrer Nation abzielte. Daneben sollten Schülerinnen und Schüler aber auch eine moralische Entwicklung vollziehen. Dies zog zumeist religiöse Interpretationen von Sachverhalten und Unterrichtsinhalten nach sich, wobei diese sicher christlich geprägt, häufig aber auch konfessionell gebunden (katholisch oder reformiert) waren. 1 Die nationale Dimension wird schon im ersten, von Lukas Boser Hofmann und Nathalie Dahn-Singh verfassten Beitrag sichtbar. Sie bringen das politische Programm von Liberalen im frühen 19. Jahrhundert, Kämpfe um die Vertretung von Fächern (in diesem Fall der Geographie) in Lehrplänen und unterrichtliche Zielsetzungen (so etwa die Heranführung von Lernenden an die visuelle Repräsentation von Staat und Nation über kartographische Darstellungen) in der Waadt und in Solothurn zusammen. Sie schliessen, dass es Absicht gewesen sei, mit der räumlichen Vorstellung über die Einprägung von Karten die Kinder stärker an Staat und Nation zu binden.

Auch im nächsten Beitrag von Ingrid Brühwiler und Alexandre Fontaine wird die Zeitgebundenheit von pädagogischen Entwürfen betont. Er widmet sich der Verbreitung der Lehrmethode von Père Grégoire Girard, dem «enseignement mutuel»2, insbesondere in der Regeneration. Mit dem in dieser Methode vorgesehenen Wechsel zwischen Lehrervortrag und Formen, in denen fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler andere Lernende unterrichten, waren auch Sparerwartungen verbunden. So konnten mehr Kinder gleichzeitig unterrichtet und allenfalls Lohnkosten für Lehrer gespart werden. Dies zu einer Zeit, als die Zahl der Kinder stark zunahm und die Finanzkraft vieler Gemeinden und Kantone noch relativ gering war. Gleichzeitig vermochte die Lehrmethode, so die damalige Auffassung, den Kindern ein Gefühl moralischer Verantwortlichkeit für die Entwicklung anderer zu vermitteln. Sie habe den moralisch beeinflussten «écolier-citoyen» im Auge gehabt, der damit Ordnung und Einfügung gelernt habe. Diese Zielsetzung hätten die Bildungssysteme sowohl katholischer wie protestantischer Kantone verfolgt, so dass in der Umsetzung zwischen diesen kaum Unterschiede feststellbar gewesen seien.

Michèle Hofmann befasst sich mit der Bildung von sogenannt «schwachsinnigen» Kindern im 19. Jahrhundert. Sie hält fest, dass auch bei diesen die Zielsetzung galt, sie als zukünftige Bürgerinnen und Bürger zu schulen. Dies beinhaltete Lesen, einfaches Kopfrechnen sowie Vaterlandskunde. Die jungen Männer sollten soweit unterrichtet werden, dass sie auch zum Wehrdienst zugelassen werden konnten. Als zukünftige Bürger und Soldaten sollten sie imstande sein, ihren eigenen Unterhalt zu verdienen. Allerdings war man davon überzeugt, dass diese Lernenden in Sonderschulen unterrichtet werden sollten, da dort ihren Bedürfnissen am besten entsprochen werden könnte.

Rebekka Horlacher untersucht die Erwartungen, die mit der Einführung von Politischer Bildung - die auch instruction civique oder Staatsbürgerkunde hiess – verbunden waren. Sie stellt einleitend fest, dass gerade für dieses Fach sehr unterschiedliche Wege der Integration in die Lehrpläne gewählt wurden. Um dies zu zeigen und die Bezüge zwischen den pädagogischen Entscheidungen und der sozialen und politischen Situation sichtbar zu machen, stellt sie die beiden als fortschrittlich beziehungsweise modern geltenden Kantone Zürich und Waadt nebeneinander. Die Tatsache, dass die Waadt ein neu geformter Kanton war, bezeichnet sie dabei als markante Differenz zwischen den beiden. In Zürich sieht die Autorin die Diskussion − vor dem Hintergrund eines etablierten und
traditionsreichen Staatswesens des Kantons − geprägt von der Auseinandersetzung um die Frage der demokratischen Ausgestaltung und damit der Partizipation der Bürger. Damit sollte in der Schule nicht nur historisch-politisches Wissen vermittelt, vielmehr sollten auch ein politisches Bewusstsein und eine partizipative Haltung herbeigeführt werden. In der Schule der Waadt erlangte die Politische Bildung zwar ebenfalls einen gesicherten Platz. Das Fach sollte aber vor allem politisches Wissen vermitteln und die Pflichten eines Staatsbürgers deutlich werden lassen, um die Qualität der politischen Prozesse zu sichern.

Der erste Beitrag zum luxemburgischen Schulsystem macht deutlich, dass dieses in enger Verbindung zur Neugründung des Staates nach der nationalsozialistischen Besatzung gesehen werden muss. So wurde Französisch als einzige offizielle Sprache festgelegt, obwohl ein wesentlicher Anteil der Bevölkerung deutschsprachig war. Die Setzung knüpfte aber auch an die Grundlagen der Nationalstaatsgründung im 19. Jahrhundert an, als Französisch die Sprache der Eliten und Amtssprache war, die vor allem die Kinder im städtischen Milieu erlernten, während die Kinder aus der ländlichen Bevölkerung primär luxemburgisch eingeschult wurden. Auch das festzulegende Schulsystem der Nachkriegszeit sei im Dienst des nation-building gestanden. Am Beispiel der Gründung des Institut pédagogique im Jahr 1958, mit welchem eine Reform der Lehrerbildung erreicht werden sollte, zeigen Ragnhild Barbu und Jil Winandy, dass es nicht gelang, den religiösen und patriotischen Leitbildern zu entkommen. Dies hatte zur Folge, dass sich traditionelle Vorstellungen zur Unterschiedlichkeit der Geschlechter, aber auch zu unterschiedlichen Ansprüchen der Ausbildung zukünftiger Eliten einerseits und der breiten Bevölkerung andererseits weiterhin sowohl in den Strukturen wie in den Inhalten durchsetzten. Erst mit der Ablösung des Instituts im Jahr 1983 und der Gründung der Universität 2003 habe sich die Möglichkeit zu Veränderungen ergeben, auch wenn die Autorinnen den Verdacht äussern, dass sich im Kern bis heute nichts Grundsätzliches verändert habe.

Catherina Schreiber befasst sich am Beispiel von Schulhausbauten der 1950er und 1960er Jahre in Luxemburg mit der theoretischen Auseinandersetzung darüber, wie das Zusammenspiel schulischer Inhalte, Schulorganisation und Schulgebäude funktioniere. Die Schulgebäude dieser Zeit hätten zur Konstruktion der nationalen Einheit beigetragen und zusammen mit anderen öffentlichen Gebäuden ein Ensemble gebildet, das für die Bekämpfung von Armut und Kriminalität gestanden habe. Die Gestaltung der Bauten habe zudem den Kindern eine Lebensform vorgeschlagen, indem sie sich einerseits in die Gemeinschaft einzufügen hatten und andererseits dieselbe mitgestalten sollten. Schulgebäude dienten zudem der kulturellen Selbstdefinition, die auch soziale Gerechtigkeit ermöglichen sollte. Sie dienten aber auch der Definition und Gewöhnung der nachkommenden Generationen als Staatsbürger. Obwohl die Schulgebäude eine vereinheitlichende Funktion besassen, blieb Raum für soziale, regionale und kulturelle Ausdifferenzierungen, was die Akzeptanz der Gebäude ermöglichte, aber auch zur Bestätigung bestehender innernationaler Differenzen führte.

Matias Gardin thematisiert aufgrund einer Zeitungsanalyse die Konsequenzen zweier Entwicklungen in Luxemburg, die sich seit den 1980er Jahren verbinden. 1984 wurde das zweisprachige Land zu einem dreisprachigen, indem Luxemburgisch zu einer eigenständigen Sprache erhoben wurde. Zwar ist die Mehrsprachigkeit wesentlich der jeweiligen kulturellen Nähe der Regionen zu den Nachbarländern geschuldet, sie bildet aber auch eine soziale Schichtung ab. Mit dem Gesetz von 1984 sei die Stratifizierung der luxemburgischen Gesellschaft wesentlich über die Sprachmächtigkeiten perpetuiert worden. Die enormen Sprachhürden, die sich für die Schülerinnen und Schüler damit aufbauten, erfuhren eine soziale Zuspitzung mit der seit den 1970er Jahren erfolgenden Zuwanderung vor allem von Portugal. Die Fixierung des Luxemburgischen als Sprache der Integration kritisiert der Autor angesichts der Tatsache, dass Französisch die verbreitetste Verkehrssprache ist und von der migrantischen Bevölkerung teilweise gesprochen wird, zumindest aber sehr viel leichter erlernbar ist.

Der Beitrag von Patricia Legris befasst sich mit französischen Reformen der 1970er Jahre, in denen statt des traditionellen Geschichtsunterrichts neu ein Fach geschaffen werden sollte, das die Geschichte mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven verbinden sollte. Diese Reform stand im Zeichen der Schaffung eines neuen Staatsbürgers, der über aktuelle Fragen informiert ist und eine gesellschaftliche Aktivität zugunsten der Gemeinschaft entfalten kann und will. Ein einheitliches Collège, statt eines gestuften wie bisher, sollte zudem die Gleichheit in der Ausbildung fördern und damit die Integration der Gesellschaft stützen. Allerdings erfuhren diese Ideen einer Veränderung der Gesellschaft über die Reform der sozialwissenschaftlich-historischen Bildung auch Opposition, indem auf die Notwendigkeit einer nationalen Verankerung der Staatsbürger gepocht wurde. Nach einer umfassenden Kontroverse kehrte die Regierung zu einer national orientierten Idee von Staatsbürgerlichkeit und einem entsprechend traditionellen Geschichtsunterricht zurück.

Bedauerlicherweise machen die Autorinnen und Autoren nicht immer deutlich, auf der Basis welcher Quellenkorpora sie zu ihren Darstellungen und ihren Erkenntnissen kommen. Ebenso sind nicht alle Autorinnen und Autoren gleich vorsichtig bei Verallgemeinerungen und Schlussfolgerungen auf der Grundlage von – notwendigerweise schmalen – Vergleichen. Ferner hätte bei der Zusammenstellung der Beiträge stärker darauf geachtet werden können, die Leserschaft ausgehend vom Grundthema in den jeweiligen inhaltlichen Kontext einzuführen.

Dennoch präsentiert sich der Schwerpunkt «Verfassung, Bürgerschaft und Schule» mit seiner Palette von Beiträgen als ein in seinen Einzelteilen sehr anregendes, aber höchst lückenhaftes Puzzle zur Frage, wie Schule zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Milieus mit künftiger Staatsbürgerschaft oder künftiger Beteiligung an der Gesellschaft in Bezug gesetzt worden ist. Die Beiträge geben interessante Einblicke und zeigen, dass die Thematik sowohl in ihrer theoretischen Erfassung wie in ihrer konkreten Erforschung Aufschluss zu liefern vermag, was Gesellschaften von Schule erwarten und welche Bedeutung Staats- und Staatsbürgerkonzepte bei diesen Erwartungen haben. Umgekehrt wird immer wieder deutlich, dass pädagogische Überzeugungen und Reformanstrengungen sich in den politischen Prozessen mit solchen Erwartungen erfolgreich verknüpfen oder von ihnen ganz oder in Teilen blockiert werden.

Die Einblicke in die luxemburgischen Reformanstrengungen der letzten fünfzig Jahre erlauben wichtige Einsichten in die (staats-)politischen Bedingtheiten der Gestaltung der Schule. Sie sollten mit gleichzeitigen schweizerischen Entwicklungen verglichen werden, denn dies wäre auch für das Verständnis der Bildungspolitik und der auf Demokratie, Staat und Nation bezogenen Ausgestaltungen der Schule in der Schweiz aufschlussreich.

1 Vgl. Alexander Lötscher, Claudia Schneider, Béatrice Ziegler (Hrsg.), Reader. Was soll Politische Bildung? Elf Konzeptionen von 1799 bis heute, Bern 2016. Dieser Band präsentiert unterschiedliche, in der Schweiz entwickelte Entwürfe einer politischen Bildung aus zwei Jahrhunderten.
2 Vgl. dazu auch Pierre-Philippe Bugnard, Mariano Delgado, Fritz Oser et Francis Python, Un pédagogue à l’origine de l’école actuelle. Le Père Grégoire Girard (1765–1850). Textes essentiels et biographie, Neuchâtel 2016.

Zitierweise:
Béatrice Ziegler: Rezension zu: Daniel Tröhler, Danièle Tosato-Rigo, Karine Crousaz, Katja Hürlimann (Hg.): Verfassung, Bürgerschaft und Schule / Constitution, citoyenneté et école, Zürich: Chronos Verlag, 2017 (traverse. Zeitschrift für Geschichte - Revue d’histoire 2017/1). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 175-180.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 175-180.

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