R. Wyss: Reformprogramm und Politik

Titel
Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Wyss, Regula
Reihe
Frühneuzeit-Forschungen
Erschienen
Epfendorf 2015: bibliotheca academica Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
von
Emil Erne

In den 1970er Jahren lancierte Ulrich Im Hof mit einem Nationalfondsprojekt zur Schinznacher Helvetischen Gesellschaft die Sozietätenforschung am Historischen Institut der Universität Bern. Rund dreissig Jahre später haben nun André Holenstein und Christian Pfister die Untersuchungen auf eine breitere Basis gestellt und vertieft. Ging es damals um die Institutionengeschichte und die sich allmählich herausbildende «politische Öffentlichkeit», so stehen heute die Gewinnung, Verbreitung und Anwendung von Wissen und die Herrschaftspraxis in der Frühen Neuzeit im Vordergrund. Die europaweit gegründeten ökonomisch-patriotischen Sozietäten interessieren primär als Stätten der Produktion von «nützlichem Wissen» im Hinblick auf Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft. Ein markantes Ergebnis des Forschungsprojekts «Nützliche Wissenschaft, Naturaneignung und Politik. Die Oekonomische Gesellschaft Bern im europäischen Kontext (1750-1850)» ist die vorliegende Dissertation von Regula Wyss.

Am Beispiel der Oekonomischen Gesellschaft Bern untersucht die Autorin, wie
Reformideen Eingang in die administrative Praxis der Obrigkeit fanden und damit die Umsetzung von neuen Erkenntnissen in Politik und Verwaltung gelang. Sie erörtert zunächst die wesentlichen Charakteristika des altbernischen Staats und definiert die verwendeten Begriffe unter Einbezug neuer Forschungen zur «guten Policey». Methodisch kombiniert sie die serielle Quellenanalyse mit der Auswertung von Fallbeispielen aus dem gut erhaltenen Archiv der Sozietät und den umfangreichen Behördenakten. Befunde der älteren Forschung werden präzisiert oder korrigiert. 17 Diagramme und zehn Tabellen veranschaulichen den Text.

Die noch heute als Oekonomische Gemeinnützige Gesellschaft Bern aktive Sozietät wurde 1759 von Johann Rudolf Tschiffeli (1716-1780) zusammen mit gleichgesinnten Angehörigen des bernischen Patriziats gegründet. Sie zählt zu den ältesten ökonomischpatriotischen Vereinigungen in Europa und wurde zum Vorbild für ähnliche Institutionen. Zweck war hauptsächlich die Förderung der Landwirtschaft, ferner des Gewerbes und des Handels als nachgelagerte Bereiche. Entsprechendes Wissen sollte systematisch generiert und vermittelt werden durch «Topographische Beschreibungen», Preisfragen, in- und ausländische Korrespondenzen, praktische Anleitungen, Prämien für konkrete Leistungen, systematische Datensammlungen und ein Publikationsorgan, das periodisch erschien.

Die Oekonomische Gesellschaft war vielfältig mit dem bernischen Staat verflochten. Sie propagierte Themen, denen sich auch die Obrigkeit widmete, und umgekehrt erteilte der städtische Rat der Sozietät Aufträge zu Preisfragen und Gutachten. In der Versorgungspolitik, einer wesentlichen Stütze staatlicher Macht, bestand «Zielparallelität» (S. 183): Man war sich einig, dass eine möglichst autarke Nahrungsmittelversorgung zu einem möglichst erschwinglichen Preis angestrebt werden sollte. Ein nachweisbarer Aktenaustausch belegt die persönlichen Verbindungen der Akteure. Die paternalistischen Strategien der Obrigkeit trugen die Gesellschaftsmitglieder mit, vor allem die Magistratspersonen unter ihnen. Diese vertraten gleichzeitig traditionelle Regierungspraktiken und neue rational-systematische Konzepte. Die Obrigkeit hatte für die Wohlfahrt der Untertanen zu sorgen, musste aber auch auf die althergebrachten lokalen Strukturen Rücksicht nehmen. Die Sozietät fungierte als Plattform für Meinungen auch von Untertanen, die keine politische Mitsprache hatten, etwa in der Kontroverse um den freieren Getreidehandel.

Durch akribische quantitative Analysen legt die Autorin dar, dass vom Reformprogramm nicht ohne Weiteres auf reformerisches Wirken der Mitglieder geschlossen werden darf, und dass umgekehrt auch Nichtmitglieder reformerisch wirken konnten. Die Strategien und Praktiken der Reformpolitik werden anhand ausgewählter Reformideen behandelt (u. a. Verbreiterung der Ertragsbasis durch Allmendteilung und Bevölkerungspolitik, Sicherheit der Versorgung durch Vorrats- und Handelspolitik, Vermeidung von Schäden wie Insektenbefall und Überschwemmungen). Die Obrigkeit griff für ihre Zwecke auf das Fachwissen und das Netzwerk der Sozietät zurück. Wie dieser Wissenstransfer auch zur praktischen Umsetzung von Erkenntnissen führte, wird anhand der Viehseuchenpolitik Berns ersichtlich: Albrecht von Haller, langjähriger Präsident der Sozietät, war als international vernetzter Gelehrter auf dem neuesten Stand des Wissens und hatte als Mitglied des obrigkeitlichen Sanitätsrats die Möglichkeit, sich direkt für die Anwendung der von ihm selbst propagierten Mittel einzusetzen.

Die engen, zunächst vorwiegend informellen Beziehungen über die involvierten Personen entwickelten sich im Laufe der Zeit zu einer offiziellen Zusammenarbeit. So war die Landesökonomiekommission zeitweise ausschliesslich mit Mitgliedern der Sozietät besetzt. Aus Sparsamkeitsgründen war die Obrigkeit an dem durch die Sozietät vermittelten Wissen interessiert, konnte sie doch dadurch auf die Gründung einer eigenen Akademie oder Beamtenschule verzichten. Das kostengünstige Expertengremium richtete sich dementsprechend weniger auf Grundlagenwissen, sondern eher auf Nützlichkeit und praktisches Anwendungswissen aus. Die Oekonomische Gesellschaft war aus der privaten Initiative von Männern entstanden, die bereits staatliche Ämter innehatten oder die darauf aspirieren konnten. Im 18. Jahrhundert waren etwa zwei Drittel der Mitglieder Magistratspersonen, weshalb das Wissen der Sozietät herrschaftsstabilisierend wirkte. Reformideen wurden in die Verwaltung eingebracht, ohne das bestehende politische System ins Wanken zu bringen.

Regula Wyss trägt umsichtig Daten und Fakten zusammen, legt sie strukturiert vor und wertet sie nachvollziehbar in klarer, gut lesbarer Sprache aus. Methodisch sauber, minutiös voranschreitend aufgrund der einschlägigen Fachliteratur und der massgeblichen Quellen, ist ihr eine wissenschaftlich fundierte Arbeit zur frühneuzeitlichen Regierungspraxis und ein erfreulicher Beitrag zu einer der bedeutendsten Sozietäten der Schweiz des 18. Jahrhunderts gelungen.

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Regula Wyss: Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Epfendorf/Neckar: bibliotheca academica Verlag, 2015 (Frühneuzeit-Forschungen, Band 21). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 173-175.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 173-175.

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