D. Guggenheimer: Kredite, Krisen und Konkurse

Cover
Titel
Kredite, Krisen und Konkurse. Wirtschaftliches Scheitern in der Stadt St. Gallen im 17. und 18. Jahrhundert


Autor(en)
Guggenheimer, Dorothee
Reihe
St. Galler Kultur und Geschichte
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
von
Michael Jucker, Historisches Seminar, Universität Luzern

Das ökonomische Scheitern ist vermutlich so alt wie die ökonomischen Beziehungen unter Menschen und wird kulturell unterschiedlich wahrgenommen. Während die klassische Wirtschaftsforschung rasch Zusammenhänge zwischen ökonomischen Krisen und dem persönlichen Scheitern oder dem Konkurs von Geschäften statuiert, versucht die kulturhistorisch orientierte und anthropologisch beeinflusste Geschichtsforschung Kredite und Schuldbeziehungen als soziale Faktoren der Vergesellschaftung zu betrachten. Die vorliegende, sorgfältig gestaltete Augsburger Dissertation der St. Galler Archivarin Dorothee Guggenheimer situiert sich zwischen der Rechtsgeschichte und der neueren Kulturgeschichte der Wirtschaft der Vormoderne. Sie untersucht an zahlreichen Gerichtsakten des 17. und 18. Jahrhunderts der Stadt St. Gallen das ökonomische Scheitern von Textilproduzenten. Die Grundfrage, warum es auch in «Phasen des Aufschwungs» zu zahlreichen Konkursen kam, durchzieht das ganze Buch. Guggenheimer grenzt sich somit deutlich von der älteren Forschung ab, die Konkurse oder Fallimente mit Abschwungphasen verbunden hat. Eine reiche Quellenlage in St. Gallen, der wichtigsten Textilstadt in der vormodernen Eidgenossenschaft, bietet Guggenheimer die Möglichkeit, die Kreditbeziehungen, Konkurse und ökonomisches Scheitern aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. So untersucht die Autorin die rechtlichen Grundlagen im Wandel, die quantitativ-strukturellen Ebenen in Verbindung mit der Konjunkturgeschichte, die individuelle Ebenen und abschliessend die kulturellen Deutungsmuster und ihren Wandel.

Dadurch entspannt sich ein breites und facettenreiches Panorama einer wichtigen Stadt des Textilhandels. Methodisch situiert sich die Arbeit entsprechend vielschichtig, das reicht von klassischer Rechtsgeschichte über ökonometrische Ansätze bis zur Diskursgeschichte.

Spannende Einblicke liefert die Autorin aber auch – in nötiger Kürze – in die Sozialgeschichte der Stadt und in die Grundvoraussetzung für den Aufschwung St. Gallens in der Textilproduktion.

Das rechtshistorische Kapitel sondiert die Fallimentsgesetze und die Rechtsordnungen. Es liest sich ziemlich voraussetzungsreich, auch weil die rechtsgenetischen Aspekte nicht im Detail erläutert, beziehungsweise die Gründe für normative Veränderungen erst am Ende des Kapitels nachgereicht werden. Gleichwohl zeigt die Autorin deutlich auf, dass die Verwertung der Konkursmasse in St. Gallen anders als in vielen Regionen des Reichs geregelt wurde. Die Fallimentsmasse beziehungsweise deren Verteilung wurden dem Kreis der Gläubiger überlassen. Daher finden sich in den Gerichtsakten auch kaum Angaben über Art und Weise der konkreten Verteilung. Zumindest lassen sich jedoch Abstufungen und Kategorien der Schuldner erkennen. Deutlich wird auch, dass die Obrigkeit in St. Gallen erstaunlich flexibel reagierte, wenn es um Anpassungen an äussere Bedingungen wie Konjunkturen und vermehrte Konkurse ging. Liberalisierungsschritte des Konkursrechts führten allerdings nicht, wie erwartet, direkt zu weniger Konkursen. Die Zünfte forderten denn auch wieder eine Straffung der Gesetze, weil der Schrecken des Scheiterns nicht mehr deutlich sichtbar sei. Offen bleibt jedoch, wie die Zünfte, die stets eine etatistische Haltung einnahmen, ihre Forderung in die Räte trugen und dort auch durchsetzen konnten.

Das quantitative Kapitel zum Zusammenhang zwischen Konjunkturdaten und den Konkursen in St. Gallen macht deutlich, welche grosse Quellenarbeit und Forschungsleistung der Arbeit zugrunde liegen. Die Konjunkturdaten einer frühneuzeitlichen Stadt liegen bekanntlich nicht einfach so vor und können genutzt werden. Vielmehr wurden sie von der Autorin selbst erhoben und hochgerechnet, wenn auch nur in Stichproben aus den Rats- und Verordnetenprotokollen. Die erhobenen Zahlen zeigen unter anderem auf, dass die Konkursrate nicht an die Gesamtbevölkerungsrate gekoppelt werden darf: Es gab nicht mehr Konkurse bei einem entsprechenden Anstieg der Bevölkerung. Das Gegenteil war der Fall, zumindest im 17. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert haben wir es dann mit umgekehrten Vorzeichen zu tun. Spannend zu lesen sind die Kapitel über die konkreten Kreditbeziehungen und die sozialhistorischen Zusammenhänge. Anhand einzelner Fälle aus unterschiedlichen Berufsgruppen wie Müllern, Amtsleuten, Metzgern oder Kaufleuten zeigt Guggenheimer persönliche Schicksale, Schuldkarrieren und auch Schulddauer auf. Zahlreiche Konkursite waren bereits vor dem endgültigen Konkurs über Jahre verschuldet. Meist waren sie daher den entsprechenden Gerichten bereits bekannt. Interessant sind auch die Analysen zu den innerstädtischen Schuld- und Kreditbeziehungen, welche sich wie ein Netz durch und über verschiedenste Schichten zog: Berufskollegen, Nachbarn, Verwandte tauchen relativ häufig in den Quellen auf. Insbesondere Metzger schienen meist innerfamiliär verschuldete gewesen zu sein. Frauen und Männer unterschieden sich wesentlich in ihren Kreditbeziehungen. Einerseits erhielten Frauen sehr viel seltener hohe Summen an Kredit und andererseits wurden sie vor Gericht bedeutend strenger verurteilt. Das galt im Übrigen auch für die Kaufleute: Ihnen drohte die Wegweisung in entferntere Orte und häufig auch für längere Zeit als den Herstellern von Produkten oder Handwerkern. Der räumliche Ausschluss aus der Gemeinschaft war heftig, ökonomisch wie sozial betrachtet, weil damit die Verdienst- und Arbeitsmöglichkeiten wegfielen. Den wenigsten war es möglich, sich erneut zu etablieren. sowohl in ökonomischer wie auch politischer Hinsicht. Das wandelte sich erst im ausgehenden 18. Jahrhundert, ab dann konnten Konkursite ihre Schulden lebenslänglich zurückbezahlen oder durch Konkursquoten einen Schlussstrich ziehen.

Insgesamt ist das vorliegende Buch sehr zu loben. Es bietet sehr gute Einblicke in ökonomische und vor allem auch rechtliche Sachverhalte in der Textilstadt St. Gallen und bringt neue Forschungsresultate hervor. Die Akribie, mit der die Autorin die Einzelfälle und die Rechtskomplexität erörtert, kommt ihr manchmal etwas in die Quere. Dem Buch fehlt es etwas an narrativem Schwung und dem Gespür für spannende und unterhaltsame Geschichten, die durchaus in den Details vorliegen würden. Bisweilen wirkt es deshalb etwas trocken und wiederholend. Man kann die Detailgetreue aber auch als Stärke auslegen. Für die künftige Erforschung von städtischen Kreditbeziehungen und Konkursvorgängen weist das Buch durchaus Vorbildcharakter auf, gerade, weil es um die Mehrschichtigkeit des Phänomens und die genauen rechtlichen Zustände bemüht ist und weil es eben aufzeigen kann, dass grosse konjunkturelle Daten nicht immer zwingend auf mikroökonomische Zusammenhänge zurückfallen.

Zitierweise:
Michael Jucker: Rezension zu: Dorothee Guggenheimer, Kredite, Krisen und Konkurse. Wirtschaftliches Scheitern in der Stadt St. Gallen im 17. und 18. Jahrhundert, Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 171-173.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 1, 2018, S. 171-173.

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