Cover
Titel
Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918


Herausgeber
Rossfeld, Roman; Koller, Christian; Studer, Brigitte
Erschienen
Baden 2018: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 49,00
von
Tobias Kaestli

Wer hundert Jahre nach dem Landesstreik vom November 1918 dieses wichtige Ereignis der Schweizer Geschichte neu aufgreift, wird sich an dem messen lassen müssen, was vor fünfzig Jahren schon publiziert wurde. Den Massstab setzten damals Willi Gautschi und Paul Schmid-Ammann, die 1968 erstmals den umfangreichen Quellenbestand im Bundesarchiv auswerten konnten und zudem in verschiedenen kantonalen und städtischen Archiven sowie den Archiven des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz forschten. Klar und deutlich traten beide der von bürgerlicher Seite während Jahren aufrechterhaltenen Legende entgegen, der Landesstreik sei ein Umsturzversuch im Stil der Bolschewiki gewesen, weshalb der massive Einsatz von Teilen der Armee unter der Leitung von General Wille notwendig gewesen sei. Schmid-Ammann und Gautschi hoben demgegenüber die unerträglichen Lebensbedingungen für grosse Teile der Arbeiterschaft in den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs hervor, und sie sahen den Streik als Akt der Notwehr. Es sei darum gegangen, auf die ärgsten Mängel, vor allem die schlechte Lebensmittelversorgung, aufmerksam zu machen und politische Reformen anzustossen, keinesfalls aber darum, die Regierung zu stürzen.

Die Grundfrage nach den eigentlichen Zielen des Streiks wurde also schon 1968 geklärt. Die Autorinnen und Autoren der beiden hier zu besprechenden Bücher bestätigen den damaligen Befund. Was haben sie darüber hinaus zu bieten? Beim umfangreicheren deutschsprachigen Werk ist es vor allem die wissenschaftliche Herangehensweise. Die beiden Herausgeber und die Herausgeberin skizzieren in einem einleitenden Kapitel die bisherigen Wege der Landesstreikforschung und betonen, dass «auch 50 Jahre nach der wichtigen Arbeit von Gautschi» – Schmid-Ammann wird an dieser Stelle nicht erwähnt, später aber mehrfach zitiert – erhebliche Forschungsdefizite bestünden. Sie beklagen besonders den «Mangel an einer transnationalen, auf Austauschprozesse bezogenen Perspektive» und einer «stärker an Ängsten und anderen Emotionen interessierten kultur- und diskurstheoretisch ausgerichteten Streikforschung». Um dem abzuhelfen, haben sie die Arbeiten von 23 Autoren und Autorinnen, die in diesen Feldern und unter diesen Perspektiven gearbeitet haben, zusammengestellt und herausgegeben. Entstanden ist ein schweres, grossformatiges Buch mit schlichtem Kartondeckel, ein Sammelband, der, wie es bei allen derartigen Werken der Fall ist, ein wenig die Kohärenz vermissen lässt. Man muss sich mit Wiederholungen abfinden, aber es lohnt sich, dranzubleiben und sich auf das breite Themenspektrum einzulassen. Behandelt werden die Lebensmittelversorgung während der Kriegsjahre, die Wohnungsfrage, die Idee der Sozialversicherung, die Bürgerwehren, die Militärjustiz, das Engagement der Frauen vor und während des Streiks, die Organisationsfrage, die Grippeepidemie, die Haltung der bäuerlichen Bevölkerung, die Situation im Tessin und in der Eisenbahnerstadt Olten und einiges mehr. Ergänzt werden die Texte durch gut ausgewählte Fotografien, politische Plakate und öffentliche Bekanntmachungen.

Das zweite hier zu besprechende Buch zum Landesstreik kommt weniger ambitiös daher und ist wesentlich schlanker. Herausgeber und Hauptautoren sind der ehemalige SP-Nationalrat, Gewerkschafter und Journalist Jean-Claude Rennwald und der gewerkschaftsnahe Historiker Adrian Zimmermann. Die beiden planten ursprünglich eine auf die französische Schweiz beschränkte Darstellung der Ereignisse, wohl aus dem Bedürfnis heraus, zu einer Art Ehrenrettung der Romandie beizutragen, deren Beteiligung am Landesstreik insgesamt eher schwach war. Das kam nicht zuletzt daher, dass die Streikleitung, bestehend vor allem aus dem Oltener Aktionskomitee mit Robert Grimm an der Spitze, von Deutschschweizern dominiert war und deshalb mit einem gewissen Misstrauen bedacht wurde. Den «Graben» zwischen der deutschen und der französischen Schweiz gab es eben auch innerhalb der Arbeiterschaft. Als die beiden Herausgeber ihr Buch konzipierten und für die Bearbeitung der besonderen Ausprägung des Generalstreiks im Genferseegebiet, im Wallis und in Freiburg weitere Autoren hinzuzogen, weiteten sie ihren Arbeitsplan aus, sodass jetzt, trotz knappen Raums, eine umfassende Darstellung der Ereignisse vor und während des Streiks vorliegt. Das in elegantem Französisch verfasste Bändchen wirkt wie aus einem Guss. Zwar stützt es sich auf eine weniger breite Literaturliste, und die Autoren haben nur in sehr beschränktem Mass Quellenforschung betrieben. Trotzdem gelingt es ihnen, neue Forschungsaspekte zu berücksichtigen, und der transnationale Aspekt kommt bei ihnen zwangslos zum Tragen, vor allem im letzten Kapitel, in dem sie den Generalstreik als «arme planétaire» untersuchen und auf Streikbewegungen von 1918 bis heute in Frankreich, Belgien, Brasilien, China, Indien und in den USA aufmerksam machen. Dabei treten sie teilweise aus ihrer Rolle als Historiker heraus und werden zu engagierten Gewerkschaftern, die das Mittel des Streiks als entscheidend für die Wahrung der Interessen der Arbeiterschaft ansehen, und zwar nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in Gegenwart und Zukunft. Ihr Text schliesst mit dem Ausruf: «Autant de droits qui restent à acquérir dans de nombreux pays du monde!»

Die Herausgeber und Autorinnen des deutschsprachigen Buches bemühen sich dagegen um wissenschaftliche Distanz. Das persönliche Engagement ist aber auch hier spürbar, am stärksten vielleicht im Kapitel mit dem Titel «Weiber auf den Geleisen». Dass im Zusammenhang mit dem Landesstreik die Geschlechterfrage in einem eigenen Kapitel ausführlich abgehandelt wird, ist eine Neuerung gegenüber den älteren Landesstreikpublikationen. Verfasserin dieses Kapitels ist Katharina Hermann, Doktorandin und Forschungsstipendiatin im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts «Krieg und Krise. Kultur-, geschlechter- und emotionshistorische Perspektive auf den schweizerischen Landesstreik vom November 1918». Was sie aufzeigt, ist von den Fakten her nicht neu, aber sie stützt sich auf theoretische Einsichten, die ihr helfen, manche Zusammenhänge klarer zu erkennen. Aus dem von ihr verwerteten Material destilliert sie heraus, in welchen Gestaltungsräumen sich die weiblichen Akteure vor und während des Generalstreiks hauptsächlich engagierten. Es gab die selbstständigen Aktivistinnen, die schon lange vor dem Streikausbruch das Problem der Lebensmittelteuerung thematisierten, indem sie etwa Marktstände umringten und die Verkäufer und Verkäuferinnen bedrängten, um so Preisreduktionen zu erhalten. Das waren mehr oder weniger spontane Aktionen. Später gab es auch organisierte Frauendemonstrationen, etwa in Zürich, wo Rosa Bloch-Bollag, Präsidentin der Frauenagitationskommission der SP, einen Protestmarsch zum Rathaus anführte. Während der Streiktage sollten dann die Frauen sozusagen für die Hintergrundarbeit zuständig sein, das heisst, sie sollten die Kinder von der Strasse fernhalten, etwa indem sie mit ihnen Ausflüge unternahmen. Dieser Aufgabe widmeten sich vor allem Lehrerinnen, die der Sozialdemokratischen Lehrervereinigung angehörten. Auch um die Ernährung der Streikenden sollten sich die Frauen kümmern. Viele taten es, andere aber, vor allem die jungen, die bei den «Jungburschen» mitmachten, wollten auch «auf den Barrikaden» mit dabei sein. So etwa in Biel, wo sie am ersten Streiktag die Züge an der Einfahrt in den Bahnhof hinderten. Der Armeeleitung wurde gemeldet: «Bei Biel stellten sich Weiber auf die Geleise; der Zugführer musste sich über Nidau–Lyss–Suberg–München- buchsee nach Bern flüchten.

Der im gleichen Nationalfondsprojekt wie Katharina Hermann tätige und auch als Mitherausgeber zeichnende Roman Rossfeld hat das Kapitel über «Das Bürgertum im Landesstreik» verfasst. Auch er hat wenig neue Fakten zu bieten, aber anders als Gautschi und Schmid-Ammann, denen es seinerzeit darum ging, die verzerrte bürgerliche Wahrnehmung des Landesstreiks durch die Darstellung der sozialdemokratisch- gewerkschaftlichen Sicht zu korrigieren, holt er erneut die bürgerliche Sicht hervor, allerdings in kritisch-distanzierter Art. Einleuchtend zeigt er, dass schon der dem Landesstreik vorangehende Streik der Bankangestellten vom 30. September und 1. Oktober 1918 in Zürich die Angst vieler Bürger vor einer Revolution und Enteignung nach russischem Vorbild schürte. Viele hätten ihre Safes in den Banken nicht mehr für sicher gehalten und ihre Vermögenswerte abtransportiert. Es seien denn auch die Bankiers gewesen, die dringend ein präventives Aufbieten von Teilen der Armee gefordert hätten.

Die Angst vor der Revolution war nicht völlig aus der Luft gegriffen, denn es gab linke Kräfte innerhalb der Arbeiterbewegung, vor allem bei der Sozialdemokratischen Jugend, die sich durchaus auf das russische Vorbild beriefen, und sogar das Zürcher Volksrecht schrieb am zweiten Tag des Landesstreiks: «Aus der russischen und deutschen wird die europäische Revolution entstehen. Darum vermag keine Macht der Welt mehr die grosse politische Umwälzung, in der wir auch in der Schweiz stehen, zu hemmen oder aufzuhalten.» Besonnene Kräfte auf bürgerlicher Seite wussten solche Proklamationen zu relativieren und reagierten mit einer Doppelstrategie, indem sie einerseits entschieden für die Unterdrückung «revolutionärer Umtriebe» einstanden, andererseits aber Innovationen und Reformen forderten. Die Freisinnige Partei begab sich auf den Pfad des Fortschritts, zeigte sich offen für Neuerungen. Der wichtigsten politischen Forderung des Streikkomitees, nämlich der nach «sofortiger Neuwahl des Nationalrates auf der Grundlage des Proporzes», widersetzte sie sich nicht und akzeptierte es, dass ihre bisherige Vorherrschaft im Bund ein Ende fand und die Sozialdemokraten ihre Vertretung im Parlament verdoppeln konnten.

Es ist unmöglich, die Vielfalt des deutschsprachigen Landesstreikbuches in einer kurzen Rezension auch nur annäherungsweise zu erfassen. Obwohl es seinen eigenen Ansprüchen vielleicht nicht in allen Teilen zu genügen vermag, ist es insgesamt doch ein gelungenes, gut ausgestattetes und ansprechend gestaltetes Werk, das einer speziell interessierten Leserschaft eine Fülle interessanter Einsichten zu bieten hat. Wer sich aber mit einer knappen und übersichtlichen Darstellung begnügen möchte, ist mit dem Büchlein von Rennwald und Zimmermann wohl besser bedient.

Zitierweise:
Tobias Kaestli: Rezension zu: Rossfeld, Roman; Koller, Christian; Studer, Brigitte: Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918. Baden: Hier und Jetzt 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 1, 2020, S. 74-78.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 1, 2020, S. 74-78.

Weitere Informationen