F. Rogger: Marthe Gosteli

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Titel
Marthe Gosteli. Wie sie den Schweizerinnen ihre Geschichte rettete


Autor(en)
Rogger, Franziska
Erschienen
Bern 2017: Stämpfli Verlag
von
Kellerhals Katharina, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern

Nach Franziska Roggers 2015 im NZZ-Verlag erschienener Monografie «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!». Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf um das Frauenstimmrecht kam 2017 zum hundertsten Geburtstag der bürgerlichen Frauenrechtlerin Marthe Gosteli eine weitere, in grossen Teilen identische und als Biografie deklarierte Dokumentation heraus: Entlang ihres Lebenswegs werden Gostelis Erinnerungen – «Ich war die erste Frau im Vorstand des Reitvereins» –, Vermutungen – «Es ist anzunehmen, dass aus dem Hause Gosteli-Salzmann mindestens Tante Marie die Petition unterzeichnet hat» – und Erkenntnisse zu politischen Ereignissen im Zeitraum zwischen den Abstimmungen zum Frauenstimmrecht von 1959 bis 1971 ausgeführt. Gostelis grosses Verdienst, viele Akten der Frauengeschichte gerettet, gesammelt und archiviert zu haben, wird dagegen auf nur rund zehn Seiten ausgeführt.

Die «Tochter aus gebildetem, wertkonservativem Milieu und ländlicher Oberschicht» absolvierte keine Berufslehre, keine höhere Ausbildung, lediglich die Sekundarschule sowie einen Welschlandaufenthalt im Internat und erhielt ein Diplom der Fortbildungsschule – nicht an der Neuen Mädchenschule, wie Rogger dies mehrmals betont, sondern an der Städtischen Mädchenschule. Bis zum Kriegsbeginn 1939 machte sie wie ihre ältere Schwester einen zweijährigen Au-pair-Aufenthalt bei einer Bankiersfamilie in Kent, nach ihrer Rückkehr arbeitete sie in einer von der älteren Schwester vermittelten Stelle in der Medienabteilung des EMD und auf dem elterlichen Gutshof. Ab 1953, die Schwester hatte wiederum den Weg geebnet, führte sie das amerikanische Filmarchiv der US-Botschaft und lernte hier nicht nur das «Handwerk des Archivierens und der Werbung» kennen, sondern erlebte am eigenen Leib, wie selbstverständlich Gleichberechtigung und Frauenförderung in Amerika schon damals waren. Bis 1964 verfolgte Gosteli den Kampf um die Frauenrechte nur «aus der Distanz». Obwohl sie von 1964 bis 1968 den Frauenstimmrechtsverein präsidiert hatte, nahm sie nicht am Marsch nach Bern teil; genau dieses Ereignis mit dem von Emilie Lieberherr organisierten Pfeifkonzert ist aber in kollektiver Erinnerung geblieben. Im Abstimmungskampf von 1971 fochten organisierte Frauen sämtlicher Parteien gemeinsam und stellten sich hinter ein Ja. War das Resultat den «Taktikerinnen der Arbeitsgemeinschaft», die Gosteli von 1970 bis 1971 präsidierte, zu verdanken, dem «offenen Kampf der jungen Frauenrechtlerinnen» oder war die Zeit «endlich» reif? Für Gosteli war die Schweizer Frauenbewegung für diese «wirksamste unblutigste Revolution aller Zeiten» verantwortlich, die allerdings im Kanton Appenzell-Innerrhoden erst 1990 mit Bundesgerichtsentscheid zwangsweise vollendet werden konnte. Gosteli äussert sich sehr ehrlich über ihre Unsicherheiten und Hemmungen als Nichtakademikerin, über Unstimmigkeiten in Frauengremien im Zusammenhang mit dem ihr attestierten «diktatorischen Gehabe», aber sie würdigt auch die Verdienste anderer Frauen – Vorgängerinnen in der Frauenbewegung oder Frauen anderer Parteizugehörigkeit, wie die «militantere» Marie Böhlen.

Warum also will sich bei der Lektüre keine eigentliche Stimmigkeit einstellen? Vielleicht liegt es daran, dass wir das meiste bereits im ersten Buch gelesen haben. Ferner kann man über weite Strecken nicht genau zwischen den Aktivitäten Gostelis und der breit ausgeführten ergänzenden Geschichte der Frauenbewegung unterscheiden. Wo genau war Marthe Gosteli persönlich beteiligt? Die Akten ihrer eigenen Tätigkeit im Frauenstimmrechtsverein Bern fehlen. Merkwürdig mutet an, wenn Rogger einmal mehr betont, dass Historiker und Historikerinnen die bürgerliche Frauenbewegung zu wenig gewürdigt hätten, und wiederum mit der neuen Frauenbefreiungsbewegung FBB hadert: Die «revolutionären Frauen» hätten gemäss ihrer Ideologie «eine kompromisslose Zerstörung des Establishments und der alten kapitalistischen Welt» angestrebt. Bei Beatrix Mesmer heisst es zum gleichen historischen Moment: Die Vertreterin der 68er erklärte, «mit dem Stimmrecht allein sei die Emanzipation nicht zu erreichen», es gehe darum, «die bestehende gesellschaftliche Aufgabenteilung zu hinterfragen».1

Im hohen Alter wurde Gosteli mit Preisen und einem Ehrendoktortitel geehrt. Jedoch ist sie meines Erachtens nicht die «Grande Dame der Frauenbewegung», vielmehr erkannte sie im richtigen Moment den Wert der Dokumentation einer wichtigen schweizerischen Entwicklung. Die Verhandlungen zur (finanziellen) Weiterführung der Gosteli-Stiftung, die sie gegründet hat, sind nach ihrem Tod auf Bundesebene angelangt.2 Gerne würde man mehr über dieses Archiv erfahren. Offenbar stammt der Grundstock aus der Tätigkeit des Bundes Schweizerischer Frauenvereine (BSF). Gosteli erhielt vom BSF-Vorstand ab 1969 die «Kompetenz», diese Quellen zentral zu sichern. Ergänzt wurde dieser Bestand des BSF durch die Sammlung von Agnes Debrit-Vogel, die in unermüdlicher Kleinarbeit Hunderte von Lebensbildern engagierter Frauen verfasst und der Nachwelt erhalten hatte. Als im Lauf der 1970er-Jahre ein Teil der Bibliothek des BSF verkauft werden sollte, sich weder staatliche noch wissenschaftliche Kreise besonders dafür interessierten, «rettete» Gosteli die Bestände zur Frauengeschichte. Wie aber ging nun die Archivierungsarbeit weiter? Wie wählte sie aus, wenn sie Dokumente in Nacht und- Nebel-Aktionen «aus feuchten Kellern» rettete? Was landete aus welchen Gründen in Worblaufen, was im Sozialarchiv in Zürich?

Dank den aussagekräftigen Fotos und den prägnanten Aussagen Gostelis wirkt die Lektüre trotz allem lebendig und authentisch. Wir lernen mit diesem Buch, wie sich punktuelle subjektive Erinnerungen einer Zeitzeugin und Pionierin mit historischen Ereignissen vermischen und dass jeder Autor, jede Autorin mit einer eigenen Geschichte an eine Arbeit geht.

1 Mesmer, Beatrix: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914–1971. Zürich 2007, 320.
2 Vgl. die gleichlautenden Postulate von Doris Fiala, Barbara Schmid-Federer, Susanne Leutenegger Oberholzer, Maya Graf und Kathrin Bertschy vom 15.9.2017.

Zitierweise:
Katharina Kellerhals: Rezension zu: Rogger, Franziska: Marthe Gosteli. Wie sie den Schweizerinnen ihre Geschichte rettete. Bern: Stämpfli 2017. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 67-69

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 67-69

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