C. Moos: Das "andere" Risorgimento

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Title
Das "andere" Risorgimento. Der Mailänder Demokrat Carlo Cattaneo im Schweizer Exil 1848–1869


Author(s)
Moos, Carlo
Series
Zürcher Italienstudien 4
Published
Münster 2020: LIT Verlag
Extent
VI, 574 S.
Price
€ 59,90
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gabriele B. Clemens, Universität des Saarlandes

Mit dem Buch Das ‚andere’ Risorgimento publiziert Carlo Moos seine Habilitationsschrift für deutschsprachige Leserinnen und Leser. Diese erschien bereits 1992 in italienischer Sprache. Der Autor beabsichtigt, einen der wichtigsten politischen Denker des Risorgimento auch nördlich der Alpen bekannt zu machen, und alle, die versuchen, italienische Geschichte an deutschen Universitäten zu lehren, sind ihm gewiss dankbar, da so der Zugang zu einer prägenden Persönlichkeit der politischen Kultur erleichtert wird. Dabei konzentriert sich Moos auf die letzten 20 Jahre des Lebens Carlo Cattaneos, die dieser nach der gescheiterten Revolution in Mailand zunehmend verbittert im Schweizer Exil verbrachte. Den Zenit seines Einflusses hatte er da schon überschritten.

Der Mailänder Carlo Cattaneo (1801–1869) stammte aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen. Nach dem Jurastudium verdiente er sein Geld als Gymnasiallehrer. Die Heirat mit der adligen Britin Anne Pyne Woodcock erlaubte es ihm, sich fortan auf seine journalistische Tätigkeit zu konzentrieren. Von 1839 bis 1845 brachte er als Herausgeber und Hauptautor das legendäre Politecnico heraus. Diese Zeitschrift nutzte er, bis sie von der habsburgischen Zensur verboten wurde, um liberale Themen zu verbreiten. Der kulturelle und politische Föderalismus war das prägende Element seines Denkens. Es ging ihm ferner vor allem um den wirtschaftlichen Fortschritt. Cattaneo trommelte für den Eisenbahnbau, eine bessere Infrastruktur sowie die Förderung von Handel und Kreditwesen. Der Nationalstaat war für ihn kein Ziel, vielmehr träumte er von einem föderalen österreichischen Staat, in dem eine stolze Lombardei sich industriell entwickeln könnte. Dabei standen ihm als Vorbilder die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens oder Frankreichs vor Augen. Mit seinem Glauben an den Fortschritt von Individuum und Gesellschaft im Zeichen der Intelligenz beeinflusste er in einem entscheidenden Maß die bürgerlich-adligen Eliten Norditaliens.

Cattaneo beteiligte sich nicht an den politischen Aufständen 1820/21 oder 1830/31 und auch während der berühmten Cinque Giornate, als die Mailänder General Radetzky und seine Truppen aus der Stadt jagten, engagierte er sich zögerlich und dann wenig glücklich. Er glaubte noch im Herbst 1848, völlig unrealistisch, an eine mögliche Föderalisierung der Donaumonarchie. Nach der Rückkehr der Österreicher setzte er sich ins Tessiner Exil ab, das er auch nach der Nationalstaatsgründung 1861 nicht mehr verließ, weil das zentralistisch regierte italienische Königreich seinen föderalen und basisdemokratischen Politikvorstellungen überhaupt nicht entsprach.

In den ihm verbleibenden 20 Jahren, so führt Moos weiter aus, entwickelte Cattaneo seine Ideen fort und publizierte weiter zu Vorstellungen eines politischen Föderalismus sowie zu wirtschaftsliberalen Themen. Als politische Modelle schwebten ihm dabei die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika vor. Dabei war sein Leitspruch, „Wir hätten Frieden, wenn wir die vereinten Staaten von Europa hätten“, eine politische Utopie, mit der er seiner Zeit weit voraus war. Weniger zukunftsweisend war hingegen seine Publikation La città considerata come principio ideale delle istorie italiane (Die Stadt betrachtet als ideales Prinzip der italienischen Geschichte, 1858). Gemäß Cattaneo konnten Freiheit, Unabhängigkeit und politische Verantwortlichkeit nur im städtischen Umfeld des Einzelnen wachsen. Die Geschichte Italiens beschrieb er als die Geschichte der hundert Städte, die sich im fortdauernden Wettstreit entwickelt hätten, was zu einem maximalen Maß an Liberalität, Vitalität, materiellem und kulturellem Reichtum, zu Fortschritt und Effizienz geführt habe. Nach Cattaneo bildeten die Kommunen die Nation und boten zugleich innerhalb dieser Nation ein Asyl der Freiheit. Die Aufgabe der kommunalen Gesetzgebung müsse sein, die munizipalen Rechte über ganz Italien zu verbreiten. Für Moos ist diese Schrift die Krönung eines von Cattaneos propagierten, historisch untermauerten Föderalismus. Sie wurde aber nur einmal aufgelegt und kaum rezipiert, denn aufgrund der machtpolitischen Konstellationen waren föderale Konzepte nach 1849 für Italien völlig unplausibel geworden.

Cattaneo nutzte seine Jahre im Exil auch, um wirtschaftlichen Fortschritt zu unterstützen. Er engagierte sich für Eisenbahnprojekte sowie als Repräsentant einer Bonifizierungsgesellschaft, die Überschwemmungsgebiete im Tessin regulieren sollte, und in einem ganz besonderen Maße für den Bau der Gotthardbahn. Auch auf diesem Feld waren seine Pläne durchaus zukunftsweisend, sie erwiesen sich aber als zu teuer, um rein privat finanziert zu werden. Letztendlich wurden diese Vorhaben erst nach seinem Tod realisiert. Ansonsten verbrachte Cattaneo viel Zeit damit, sich mit dem Wirken Giuseppe Mazzinis und Camillo Benso von Cavours auseinanderzusetzen, mit denen er eigentlich viel gemeinsam hatte, die er jedoch mit Verve kritisierte. Mit Mazzini verband ihn sein demokratisches Gedankengut, er kritisierte aber seine revolutionären Aktionen, die er als Vertreter des Reformweges ablehnte, und dass jenem das Nationalstaatsprinzip wichtiger war als der Föderalismus. Mit Cavour verband ihn das entschiedene wirtschaftsliberale Engagement, allerdings lehnte er dessen zur Nationalstaatsgründung führende Politik ab: Der zentralistische Staatsaufbau war für Cattaneo an allen zukünftigen Miseren des Königreichs schuld. Darüber hinaus war er einer der schärfsten Kritiker Cavours, weil er Nizza und Savoyen an Frankreich abgetreten hat. Cavour wiederum stufte Cattaneo überzogen als Ultrademokraten ein, denn dieser blieb stets seinem bürgerlich-elitären Umfeld verhaftet. Bei der sozialen Frage setzte er wirtschaftsliberal darauf, dass diese sich schon von selbst lösen werde.

Das vorliegende Buch lässt sich sehr gut lesen und es besticht durch wirklich stupende Quellenkenntnisse. Als problematisch erweist sich aber, dass zwar neuedierte Quellen eingearbeitet wurden, doch so gut wie keine Fachliteratur der letzten 40 Jahre. Der Autor schreibt in der Einleitung: „Nachgeführt wurde sie [die Fachliteratur, G. C.] dort, wo es sich aufdrängte und ohne übergrossen Aufwand möglich war.“ Und weiter: „Autoren sind über das Namensregister zu finden, weshalb sich ein abschließendes Literaturverzeichnis erübrigt“ (S. 5). Es ist gewiss verdienstvoll, eine Habilitationsschrift auch noch nach Jahrzehnten zu publizieren, die sonst im deutschsprachigen Raum wenig rezipiert werden könnte, aber auf die Einarbeitung der Forschungsliteratur zu verzichten, ist mehr als bedauerlich. So wurde viel verschenkt, was lediglich drei Beispiele andeuten sollen: Vergeblich sucht man den Hinweis auf Anne Bruchs Studie zu Giuseppe Ferrari, einen der wenigen treuen Weggefährten Cattaneos nach 1848.1 Ferner hätte Moos im Buch von David Laven zur österreichischen Regierung im Veneto Argumente für Cattaneos nur auf den ersten Blick erstaunliche Einschätzung der habsburgischen Herrschaft gefunden. Laven entzaubert die schwarze Legende vom tyrannischen und unterjochenden Österreich.2 Erstaunlich ist auch der Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen kulturgeschichtlichen Studien zum Risorgimento der letzten 20 Jahre, genannt sei nur Alberto M. Bantis Standardwerk, das wie kaum ein anderes die italienische Historiographie beeinflusst hat.3

Und noch eine kritische Anmerkung sei erlaubt. Der Autor hat die zahlreichen italienischen Zitate zwar vom Fließtext abgehoben, sie dienen ihm als Belege und „lassen sich größtenteils problemlos überspringen“ (S. 5). Wenn er den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern seinen Cattaneo näherbringen möchte, wären hier Übersetzungen aber durchaus wünschenswert gewesen, allein schon aufgrund der Fülle der Zitate und weil diese auch immer wieder ganz zentrale Ideen des lombardischen Reformers beinhalten.

Zuzustimmen ist Moos bei seiner abschließenden, realistischen Beurteilung, ein anderes Risorgimento sei unter den gegebenen Umständen nicht möglich gewesen. Cavours machtpolitische Entscheidungen waren wohl doch mehr oder weniger alternativlos. Ein republikanisches Italien wäre 1860 von den europäischen Mächten und allen voran von der Habsburgermonarchie nicht akzeptiert worden und noch viel weniger ein aus Rom vertriebener Papst (S. 557).

Anmerkungen:
1 Anne Bruch, Italien auf dem Weg zum Nationalstaat. Giuseppe Ferraris Vorstellungen einer föderal-demokratischen Ordnung, Hamburg 2005.
2 David Laven, Venice and Venetia under the Habsburgs 1815–1835, Oxford 2010.
3 Alberto M. Banti, La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Turin 2000.

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Published on
18.09.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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