P. Lehmann: Umdeutung der Neutralität

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Title
Die Umdeutung der Neutralität. Eine politische Ideengeschichte der Eidgenossenschaft vor und nach 1815


Author(s)
Lehmann, Peter
Published
Basel 2020: Schwabe Verlag
Extent
378 S.
Price
CHF 70.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Maissen, Deutsches Historisches Institut Paris (DHIP) / Institut historique allemand de Paris

Warum wollten und sollten die Eidgenossen 1815 im Wiener Kongress eine Anerkennung der Neutralität erhalten, obwohl sie diese in den Koalitionskriegen zuerst auf der Seite von Frankreich und dann mit seinen Feinden stark kompromittiert hatten? Wie deuteten sie die Neutralität um, damit sie in der neuen europäischen Konstellation glaubwürdig erschien? Dies sind die grundlegenden Fragen, die Peter Lehmann in einer Lausanner Dissertation untersucht, in deren Zentrum der Genfer Patrizier, Diplomat und Aufklärer Charles Pictet de Rochemont (1755–1824) steht. Das überrascht insofern wenig, als Pictet der Architekt der Neutralitätserklärung war, die 1814/15 in die Friedensakte aufgenommen wurde. Dieses Wirken ist auch dank Pictets eigenen Schilderungen gut erforscht. Wohl auch deshalb widmet sich Lehmann im zweiten Hauptteil seiner „politischen Ideengeschichte“ vor allem Pictets Schrift De la Suisse dans l’intérêt de l’Europe von 1821. Der erste Hauptteil untersucht Interpretationen der Neutralität in der Zeit von Emer de Vattels grundlegendem Droit des Gens von 1758 bis in die napoleonische Zeit. Die aufklärerischen Debatten über Wirtschafts- und vor allem Agrarreformen werden präsentiert, weil sie auf Autarkie zielten und der Landbevölkerung eine Alternative zum auch moralisch bedenklichen Solddienst anbieten sollten. Die traditionelle Abhängigkeit von Frankreich, das nicht zuletzt das Neutralitätsverständnis weitgehend diktierte, wurde mit der Allianzerneuerung von 1777 auch für die reformierten Kantone bekräftigt. In der Revolutionszeit stellten radikale Aufklärer wie Frédéric César de La Harpe mit guten Gründen infrage, ob die oligarchischen eidgenössischen Eliten gegenüber dem inzwischen umstürzlerischen Nachbarland tatsächlich neutral eingestellt waren.

Es wird nicht immer deutlich, inwiefern Pictet selbst tatsächlich von diesen gelehrten und politischen Debatten geprägt wurde, die vor allem am Beispiel der deutschen Schweiz präsentiert werden. Deutlich wird hingegen seine Anglophilie, die sich in seinem bedeutenden Rezensionsorgan niederschlug, der Bibliothèque britannique. Pictet repräsentierte eine Generation, die Neutralität gerade angesichts von Napoleons Exzessen nicht mehr so fortführen wollte, wie sie Frankreich lange diktiert hatte: Die Eidgenossenschaft war das Glacis an der Ostgrenze der Protektoratsmacht gewesen und hatte dieser zugleich ihre Kriegsleute als Söldner zur Verfügung gestellt, statt dass sie in der Heimat dienten. Pictets neues Verständnis und damit seine Umdeutung der Neutralität bedeutete, dass er sie im Mächtegleichgewicht zwischen Frankreich und Österreich und im „europäischen Interesse“ erklärte – eine Formulierung, die in die Wiener Neutralitätsklausel einfloss.

Die Unabhängigkeit von jeder ausländischen Einmischung setzte nun voraus, dass der kleine Pufferstaat sein Territorium gegen jeden erdenklichen Angreifer mit im Inland stationierten Truppen verteidigte. So sollte die Schweiz bei den Nachbarn und anderen Mächten neues Vertrauen in die zuvor diskreditierte Neutralität schaffen und insbesondere Frankreich von Plänen abbringen, den Alpenstaat im Kriegsfall prophylaktisch zu besetzen. Dafür konzipierte Pictet auch eine zurückversetzte Verteidigungslinie im Mittelland, die interessanterweise die militärische Preisgabe seiner Heimatstadt Genf mit sich gebracht hätte. Er empfahl sogar, deren Verteidigungsanlagen zu schleifen, damit diese nicht einem Aggressor dienten.

Die Erfahrungen mit Frankreich in den vergangenen Kriegen prägten diese Überlegungen, die es Pictet erlaubten, bereits den neutralitätswidrigen Burgunderfeldzug von 1815 als Beitrag der Schweiz für die europäische Ordnung zu deuten, da sie sich gegen den Usurpator Napoleon richteten. Auf die Aufklärungsdebatten zurück ging die ökonomische und moralische Unterfütterung des Unabhängigkeitsstrebens: Die Schweizer sollten im Geist der Vorfahren bescheiden leben und Landwirtschaft statt Solddienste in fremden Heeren betreiben, weil Letztere zu Luxus und Korruption führten.

Lehmann präsentiert zahlreiche interessante Quellen, deren Auswahlkriterien aber nicht immer ganz klar sind. Das trägt zum Eindruck bei, dass wiederholt etwas disparate Bruchstücke und Lektürenotizen möglicherweise unter Zeitdruck und jedenfalls nicht immer in (chrono-)logischer Folge zusammengefügt wurden. Obwohl das Thema erforscht ist, müsste man hier mehr erfahren über Pictets Neutralitätsverständnis während der Friedenverhandlungen selbst, in den Jahren 1814/15. Stattdessen gilt das Augenmerk der doch eher ephemeren Schrift von 1821, aber weniger ihrem Inhalt als ihrer Entstehungsgeschichte und Rezeption. Wenn Lehmann festhält, dass Pictet damals in erster Linie als Agronom und Redaktor und nur in zweiter als Diplomat und Politiker wahrgenommen worden sei, so mag das stimmen. Der Titel des Buches verspricht gleichwohl eine politische Ideengeschichte. Von dieser Fragestellung schweift Lehmann bei etlichen Themen ab, die er allzu detailgetreu schildert, seien dies die liberalen Revolutionen in Spanien, der Alpenmythos oder Pictets Vorliebe für die Zucht von Merinoschafen. Gelegentliche Flüchtigkeitsfehler und Ausflüge in den Nominalstil sowie die eigenwillige Silbentrennung mildern das Vergnügen beim Lesen eines Buches, dessen interessante Ansätze es verdient hätten, noch gründlicher durchdrungen und geradlinig präsentiert zu werden.

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Published on
04.11.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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