A. Canonica: Beeinträchtigte Arbeitskraft

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Titel
Beeinträchtigte Arbeitskraft. Konventionen der beruflichen Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitgeber (1945–2008)


Autor(en)
Canonica, Alan
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
48 EUR
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Die Invalidenversicherung (IV) ist eines der wichtigsten sozialen Sicherungssysteme der Schweiz. Die obligatorische Volksversicherung hat das Ziel, den Lebensunterhalt von Menschen zu sichern, die gesundheits- oder behinderungsbedingt erwerbsunfähig sind. Die Invalidenversicherung war im letzten Jahrzehnt Gegenstand zahlreicher Reformen, die, ganz im Sinn des neoliberalen Aktivierungsparadigmas, die Wiedereingliederung der Versicherten in den Arbeitsmarkt fördern und den Anstieg der Zahl der IV-Rentnerinnen und Rentner brechen sollten. Maßgebend in der aktuellen Reformdebatte ist die Devise „Eingliederung vor Rente“. Erstaunlicherweise stand der gleiche Leitsatz bereits der Gründung des Sozialwerks Ende der 1950er-Jahre Pate. Die historische Rekurrenz dürfte mit ein Grund dafür sein, dass sich die schweizerische Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren vermehrt mit der Invalidenversicherung beschäftigt und dabei eine empfindliche Lücke der Sozialgeschichte des Landes geschlossen hat.1 Damit geht eine Perspektiverweiterung einher, die jenseits der bekannten Expansions- und Prekarisierungsnarrative der historischen Sozialstaatsforschung den Anschluss an die Disability History herstellt. So rücken bislang kaum beachtete Fragen nach den rechtlich-institutionellen Konstruktionen und den realen Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in der Vergangenheit (und der Gegenwart) in den Blick. Mit seiner Dissertation Beeinträchtigte Arbeitskraft, die an diese Ansätze anschließt, legt Alan Canonica einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der beruflichen Eingliederungspolitik in der Schweiz vor und erweitert die Sozialstaatsforschung um wichtige Aspekte.

Alan Canonicas Untersuchung beschäftigt sich mit den Rollen der Invalidenversicherung und der Wirtschaft bei der Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel der Schweiz, die im 20. Jahrhundert von Kriegshandlungen verschont blieb und keine Kriegsversehrten zu versorgen hatte, ist in dieser Hinsicht besonders interessant. Eine liberale Arbeitsmarktpolitik gehörte zu den unbestrittenen Pfeilern der nationalen Wirtschaftsordnung. Beschäftigungsquoten für Menschen mit Behinderungen sind bis heute nicht mehrheitsfähig. Arbeitsintegration beruhte – und beruht – deshalb auf dem Prinzip der Freiwilligkeit seitens der Unternehmen. Der Fokus der Untersuchung liegt einerseits auf den partei- und verbandspolitischen Debatten, andererseits auf der Haltung und Praxis der Arbeitgeberverbände und ausgewählter Unternehmen. Ausgangspunkt bildet die Frage, unter welchen Umständen profitorientierte Unternehmen bereit waren, Personen mit Leistungseinschränkungen zu beschäftigen. Dass sich diese Frage nur differenziert beantworten lässt, ist offensichtlich. Alan Canonica geht denn auch von einer „Pluralität von Rationalitäten“ (S. 12) aus, die für das unternehmerische Handeln bestimmend waren, und unterscheidet mit Verweis auf die Ansätze der Ökonomie der Konventionen vier „Handlungsgrammatiken“ oder „Rechtfertigungsordnungen“: eine leistungsorientierte „Konvention des Marktes“, eine auf Effizienz und Passung bezogene „industrielle Konvention“, eine auf die Betriebsgemeinschaft fokussierte „familienweltliche Konvention“ sowie eine „staatsbürgerliche Konvention“, die sich an der gesellschaftlichen Verantwortung eines Unternehmens orientiert (S. 19–23).

Die Untersuchung ist in vier chronologische Teile gegliedert. Das erste Kapitel beleuchtet die Durchsetzung des Eingliederungsparadigmas in der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Der arbeitsmarktliche Zugang, der von politischen Parteien, Wirtschafts- und Behindertenverbänden gleichermaßen propagiert wurde, war eine wichtige Voraussetzung, damit die Invalidenversicherung politisch realisiert werden konnte. Die Sozialversicherung, die vorerst keine existenzsichernden Leistungen ausrichtete, konnte dabei auf Ansätze zurückgreifen, die in der Wirtschaft bereits erprobt worden waren. So hatte zum Beispiel das Unternehmen Brown Boveri in den 1950er-Jahren begonnen, gezielt blinde Arbeitskräfte im Akkordlohn zu beschäftigen. Gefördert wurden solchen Bemühungen durch den Arbeitskräftemangel, aber auch durch das Kalkül der Arbeitgeber, mit freiwilligem Engagement staatlichen Regulierungen zuvorkommen und die Kosten für die Sozialversicherung tief zu halten. Wie Alan Canonica im zweiten Kapitel zeigt, entwickelte sich das auf Kooperation und Freiwilligkeit beruhende Arrangement in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren zu einem Erfolgsmodell. Ebenso wie Ausländerinnen und Ausländer, Frauen, die bisher nicht erwerbstätig waren, Studierende oder Pensionierte wurden Menschen mit Behinderungen zu einer gefragten Arbeitskraftreserve an der Basis der Qualifikationspyramide. Die IV-Regionalstellen hatten kaum Schwierigkeiten, Menschen mit Behinderungen zu vermitteln. Unternehmen bauten innerbetriebliche Integrationsstrukturen auf, während Werkstätte auf dem sekundären Arbeitsmarkt Mühe bekundeten, leistungsfähige Arbeitskräfte zu finden. Gleichzeitig verschwand die Problematik von der politischen Agenda. Im Vordergrund stand nun die Leistungserweiterung der Invalidenversicherung hinsichtlich der sozialen Integration, wozu indes auch der Aufbau separativer Bildungs- und Betreuungsstrukturen gehörte.

Mit dem Strukturbruch der 1970er-Jahre geriet der korporatistische Eingliederungs-Konsens in eine Krise, die bis in die Gegenwart anhält. Wie die letzten beiden Kapitel zeigen, nahm mit der Rezession die Bereitschaft von Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen ab, Menschen mit Behinderungen (weiter) zu beschäftigen. Die Globalisierung der Unternehmensstrukturen und das Aufkommen neoliberaler Managementmodelle führten ab den 1990er-Jahre zur Erosion jener familienweltlichen und staatsbürgerlichen Konventionen, die viele Unternehmen bewogen hatten, sich für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu engagieren. Im Gegenzug nahmen die Vermittlungsprobleme zu. Der Verzicht der Invalidenversicherung, in die individuelle Qualifizierung zu investieren, verschärfte das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit für Menschen mit Behinderungen zusätzlich. Hinzu kam die wachsende Zahl von Menschen, die wegen psychischer Probleme aus dem Arbeitsmarkt gedrängt wurden. Gleichzeitig verschärfte sich der politische Ton. Die Arbeitgeber waren bereits in den 1970er-Jahren unter Legitimationszwang gekommen und sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, leistungsschwächere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Invalidenversicherung abzuschieben. Vor dem Hintergrund der steigenden Rentenzahlen entwickelte sich eine aggressiv geführte Missbrauchsdebatte. Obwohl bereits in den 1970er-Jahren Diskussionen um Quoten- und Anreizsysteme einsetzten, blieb das Arrangement vorerst unangetastet. Zunächst begnügte sich die Politik mit organisatorischen Anpassungen. Ab 2005 erfolgte dann die Neupositionierung des Sozialwerks als Eingliederungsversicherung, die die Arbeitgeber stärker, wenn auch weiterhin auf freiwilliger Basis einband. Zur Mitwirkung verpflichtet wurden in erster Linie die versicherten Personen, die sich – unter Sanktionsdrohungen – um die Eingliederung in einem immer rigideren Arbeitsmarkt bemühen müssen. Wie Alan Canonica zu Recht festhält, trugen die Reformen allerdings eher zu einer „Akzentuierung bereits bestehender aktivierender Elemente“ (S. 195) bei. Die Geschichte der schweizerischen Invalidenversicherung zeigt, dass arbeitsmarktliche Aktivierungsstrategien keine Erfindung der neo-liberalen Ära waren.

Eine breitgefächerte Quellenauswahl aus Behörden-, Verbands- und Unternehmensarchiven sowie die Ansätze der Ökonomie der Konventionen erlauben es Alan Canonica, Handlungsorientierungen differenziert zu analysieren. Nicht immer ganz klar wird dabei allerdings die Grenze zwischen Motivation und (nachträglicher) Legitimation. Zugleich gelingt es ihm, die heute dominierende ökonomische Sicht zu historisieren. Er verweist dabei auf ein interessantes Paradox: Dominierten aufseiten der Unternehmen lange eher familienweltliche und soziale Überlegungen, so pries die Invalidenversicherung Menschen mit Behinderungen bereits früh als ökonomisch attraktive „Ressource“ an. Erst in den letzten Jahrzehnten näherten sich die Perspektiven an. Behindertenpolitische Alternativen zur Fokussierung auf die Welt des (Arbeits-)Markts haben sich seither weitgehend verflüchtigt. Interessant wäre es, diese Entwicklung noch stärker zu den Strukturveränderungen des Arbeitsmarktes (inkl. der Verpflichtung zur beruflichen Vorsorge ab Mitte der 1980er-Jahre) in Beziehung zu setzen. Eine weitere Qualität der Arbeit von Alan Canonica besteht darin, dass sie grundlegende Einsichten und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten bietet. Zu diesen Aspekten gehören die Entwicklung des sekundären Arbeitsmarkts in Form geschützter Werkstätten (inkl. deren Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen und Professionalisierungsprozessen) oder die zunehmende Fokussierung der Eingliederungsdebatte auf Personen mit psychischen Schwierigkeiten. Zu fragen wäre etwa, wie wachsende Ausgrenzungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt und Diversifizierungs- und Entstigmatisierungsprozesse in der Psychiatrie zusammenhingen. Für diese und weitere Fragestellungen wird Alan Canonicas Untersuchung eine wertvolle Grundlage darstellen.

Anmerkung:
1 Ann-Kathrin Wicki, Zurück ins aktive Leben. Von „Eingliederung vor Rente“ zu „Eingliederung dank Rente“ - die Politik und die schweizerische Invalidenversicherung, Bern 2018; Virginie Fracheboud, L’introduction de l’assurance invalidité en Suisse. Tensions au Cœur de l’état social, Lausanne 2015; Urs Germann, Eingliederung vor Rente. Behindertenpolitische Weichenstellungen und die Einführung der schweizerischen Invalidenversicherung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58 (2008), S. 178–197.

Redaktion
Veröffentlicht am
16.09.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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