A. Holenstein u.a. (Hrsg.): Politische, gelehrte und imaginierte Schweiz

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Title
Politische, gelehrte und imaginierte Schweiz. Kohäsion und Disparität im Corpus helveticum des 18. Jahrhunderts


Editor(s)
Holenstein, André; Jaquier, Claire; Léchot, Timothée; Schläppi, Daniel
Series
Travaux sur la Suisse des lumières
Published
Genf 2019: Editions Slatkine
Extent
385 S.
Price
CHF 46,15
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis, Historisches Seminar, Universität Basel

Das 18. Jahrhundert muss ein besonderes Jahrhundert sein, wenn man seine Bedeutung an den intensiven und reichhaltigen Abklärungen misst, die von der 1991 gegründeten und interdisziplinär ausgerichteten Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts zur Verfügung gestellt werden. Es ist vielleicht seiner Wichtigkeit geschuldet, entspricht aber auch einer gängigen Konzeptualisierung, wenn fallweise über beide zentenare Zäsuren hinausgegriffen und von einem langen, etwa 1650–1850 langen Jahrhundert ausgegangen wird.

Der jüngste Band mit den Ergebnissen einer 2017 in Neuenburg abgehaltenen Tagung zeigt, wie Claire Jaquier im Vorwort betont, dass die Wissenschaft und die Künste die Idee und Repräsentation der Schweiz als weitgehend gleichartige und kohärente Grösse entwickelten, derweil die politische Realität des Corpus helveticum ausgesprochen heterogen blieb. Im Gegensatz zu einer im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehenden Sicht betont André Holenstein in der substantiellen Einleitung zu diesem Band, wie sehr das Staatswesen der dreizehnörtigen Eidgenossenschaft ein komplexes Konglomerat von grundsätzlich eigenständigen Herrschaftsgebieten war und die Binnenverhältnisse nicht mit der Kategorie des Staatsrechts, sondern des zwischenstaatlichen Völkerrechts beschrieben werden sollten. Ohne dass dies explizit auf den Punkt gebracht wird, zeigen sich Analogien zur heutigen Europäischen Union, wenn etwa gesagt wird, dass die einzelnen Orte vor allem die Stärkung der eigenen Positionen anstrebten. Die «Schweiz» von damals war ein Gebilde, ein «Zusammenhang», das oder der nach und nach Gestalt angenommen hatte, «ohne dass diesem Vorgang jedoch eine Strategie, ein Plan oder ein Ziel zugrunde gelegen hätte» (S. 19).

Der Band unterscheidet drei Kapitel: Das erste betrifft die Aussenbeziehungen, die beiden anderen den politischen und den natürlichen/geografischen Raum. Die rund 20 in deutscher und französischer Sprache verfassten Beiträge zeigen variantenreich, wie Elitediskurse zu geografischen, rechtlichen, konfessionellen und sprachlichen Gegebenheiten einen helvetischen Raum entwarfen. Raum? In Anlehnung an Daniel Schläppis früherer Umschreibung von 2010 wird «Raum» im Beitrag von Hans-Ulrich Schiedt nicht nur als topografisches Territorium verstanden, sondern als mehrdimensionales räumliches Geflecht auch ökonomischer, sozialer und juristischer Beziehungen, als individueller wie kollektiver Handlungsraum – Raum konkretisiert als Raumnutzung.1 Somit sind Verkehrswege im reziproken Verhältnis von nachgefragter Nutzung und zur Verfügung gestellter Qualität wichtig, die Transportmittel, Zölle und Stapelzwänge, Unterkünfte, Geldsorten, Routenbeschreibungen. Ansprechend ist immer, aus der Gegenwartsperspektive den Zeitaufwand früherer Zeiten zur Kenntnis zu nehmen, etwa die 11–12 Tage für ein heute nur knapp vier Stunden dauernde Reise von St. Gallen nach Genf.

In einem Band über die Schweiz im 18. Jahrhundert dürfen die Alpen nicht fehlen, auch wenn, wie Alain Guyot in seinem Beitrag bemerkt, schon viel über deren Bedeutung als einigendes Symbol in einem von Diversität geprägten Land gesagt worden ist. Als Linguist kann man aber sein Auge statt auf die Berge auf die Sprache über die Berge mit ihrem der Architektur und dem Verteidigungswesen entliehenen Vokabular richten. In einem anderen Beitrag von Michael Böhler befasst sich das linguistische Interesse mit der Sprache selber, das heisst mit der Kommunikationspraxis und mit einer Problematik, die wir auch aus unseren Tagen kennen: Soll man für seine mehr oder weniger wissenschaftlichen Texte die transnational eher geläufige Standardsprache (als lingua franca nicht mehr Latein, eher Standard-Deutsch oder Französisch) verwenden, mit der man das lokale Publikum nicht erreicht, oder sich der Lokal- bzw. Vernakularsprache bedienen, die weiträumig kaum verstanden wird?

Die Konstruktionen des Binnenraums ergab sich zwangsläufig aus einer Auseinandersetzung auch mit der Aussenwelt, vor allem mit der kulturellen wie politischen Hegemonie Frankreichs. Die materiellen Verflechtungen, die Soldienste, Salzlieferungen, Handelsprivilegien, sind ausser in der Einleitung nicht Thema dieses Bandes. Hingegen wird sichtbar, wie der schweizerische Raum von aussen gesehen wurde, nicht nur aus französischer, auch aus britischer Perspektive. Besonders reizvoll ist die schonungslose Beschreibung einer 1790 in Olten abgehaltenen Versammlung der in den helvetischen Selbstbeschreibungen fast nur idealisiert dargestellten, dem Aufklärungspatriotismus verpflichteten Helvetischen Gesellschaft.

Wie weit die Schweiz des 18. Jahrhunderts eine Einheit bildete, wird vor allem nach dem Kriterium der Übereinstimmung betrachtet. Es fragt sich aber, ob nicht auch negative Verflochtenheit, zum Beispiel in konfessionellen Fragen, eine Art von Kohäsion bildete. Das wird jedenfalls deutlich in den Beiträgen von Roman Bonderer und Andreas Oefner, die aufzeigen, wie um 1830/1840 die doch gemeinsame Geschichte unterschiedlich gedeutet wurde, und damit die These von Ursula Meyerhofer widerlegen, dass sich zu jener Zeit die Geschichtsbilder der konservativen und liberalen Lager bereits stark angenähert hätten.2 Der Band vermittelt aufschlussreiche Einblicke in Einzelbereiche, zum Beispiel der Spannungsverhältnisse zwischen imaginiertem und rechtlich definierten Raum oder zwischen Universal- und Lokalsprache. Er nimmt aber auch die grosse Frage des langfristigen nation building in den Blick, indem er andeutet, dass sich das private Eliteprodukt des Helvetismus des 18. Jahrhunderts teilweise auf Vorlagen des 16. Jahrhunderts stützte und zugleich Wegbereiter für die Staatsidee der Helvetischen Republik war.

Anmerkungen:
1 Daniel Schläppi, Mehrdimensionale Räume als heuristische Modelle zur Beschreibung und Analyse der Marktchancen von Kleinproduzenten in Geschichte und Gegenwart, in: Figurer l’espace ensciences sociales, Transeo 2 (2010), 3, S. 1–15.
2 Ursula Meyerhofer, Von Vaterland, Bürgerrepublik und Nation. Nationale Integration in der Schweiz 1815–1848, Zürich 2000.

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Published on
24.08.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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