Kunstmuseum Thun (Hrsg.): Der Kontinent Morgenthaler

Cover
Titel
Der Kontinent Morgenthaler. Eine Künstlerfamilie und ihr Freundeskreis


Herausgeber
Kunstmuseum Thun
Erschienen
Zürich 2015: Scheidegger & Spiess
von
Charlotte Gutscher

Wie lässt sich ein so vielseitiges Buch, das als Begleitpublikation zu einer Ausstellung im Kunstmuseum Thun 2015 erschienen ist, mit dem Titel Kontinent Morgenthaler in diesem Rahmen vorstellen? Der Zweittitel hilft weiter: Eine Künstlerfamilie und ihr Freundeskreis.

Ein Kontinent (lat. terra continens, «zusammenhängendes Land») ist gemäss Wikipedia «eine geschlossene Festlandmasse». Auch wenn der Begriff im ersten Moment etwas hoch gegriffen erscheint – immerhin handelt es sich bei diesem «Kontinent» lediglich um ein bernisches Phänomen des 20. Jahrhunderts – weckt er doch das Interesse: Die Ausstellung und die Publikation widmen sich drei Generationen der Familie Morgenthaler und verbinden Malerei, Literatur, Musik und angewandte Kunst. Und sie geht wesentlich darüber hinaus, indem sie den Blick weitet auf das grosse Netz der mit der Familie verbundenen Freunde wie Hermann Hesse, Robert Walser, Paul Klee oder Othmar Schoeck. In der Publikation kommt auch das soziale Engagement der Familienmitglieder während des Zweiten Weltkriegs oder deren Tätigkeit im Bereich der Psychoanalyse und Psychiatrie zur Sprache. Durch diese Ausweitung des Blickwinkels entsteht eine spannende Schau auf das junge 20. Jahrhundert im damals keineswegs provinziellen Bern. Man begreift beispielhaft den weiten Weg der Kunst von einer akademisch lernbaren Tätigkeit, in der alles «Verrückte» keinen Platz hatte, zu einer neuen Auffassung von künstlerischer Kreativität. So überschreibt der Künstler Pascal Barbe, der Sascha Morgenthalter und ihren Freundeskreis persönlich gekannt hat und wesentlich für die Entstehung von Ausstellung und Buch verantwortlich war, seinen einleitenden Aufsatz: Rien n’est art, tout est trace de vie und veranschaulicht darin die Überzeugung, «dass jegliche Kreation des Menschen zur Sichtbarmachung des Lebens beiträgt» (S. 20).

Das Kaleidoskop mit unterschiedlichen Blicken auf die Künstlerfamilie setzt ein mit der 1893 geborenen Sascha Morgenthaler-von Sinner, fälschlicherweise fast nur bekannt als Puppenmacherin, und ihrem Mann Ernst Morgenthaler. Ernst lehrte in München und war unter anderen mit den Mitgliedern des «Blauen Reiters» und Paul Klee eng befreundet. Durch den Blick auf seinen Bruder, den Psychiater Walter Morgenthaler, stellt sich die Frage nach der «Normalität» im Bereich der Kunst. Walter interessierte sich nämlich erstmals für das Schaffen Adolf Wölflis, der ein langjähriger Patient in der Waldauklinik war und dessen Werke heute internationale Anerkennung geniessen.

Dieser weiten Fragestellung gemäss sind auch die Beiträge renommierter Fachleute breit gefächert. Sie stammen aus der Kunstgeschichte (Steffan Biffiger, Eva Wiederkehr Sladeczek, Helen Hirsch, Anna Lehninger oder Katrin Luchsinger) oder der Pädagogik (Regina Bucher). Eine umfangreiche «Bilderreise» (S. 57 bis S. 134) unterbricht den Textfluss, erfreut den Lesemüden und bereitet ihn vor auf weitere Kurzbeiträge aus den Bereichen Philosophie (Roger Perret), Literatur (Sophie Cailleux, Lucas Marco Gisi), Psychoanalytik (Maya Nadig) oder auf eine persönliche Begegnung mit dem 1956 geborenen, vielseitigen Familienmitglied Jan Morgenthaler.

Und so zeigt sich, dass der Begriff «Kontinent» in einem übertragenen Sinn durchaus angewendet werden kann: Freundschaften, Familienbande, Überzeugungen, Engagement hingen und hielten die Morgenthalers zusammen, bildeten das Rückgrat und den Ausgangspunkt für deren unterschiedliches Schaffen. Die schön gestaltete Publikation (Grafik: Bonbon – Valeria Bonin, Diego Bontognali, Zürich) mit einem Umschlag, der gleichzeitig Plakat und Familienstammbaum ist, spricht alle Menschen an, die wissen, dass es in stürmischen Zeiten zwischenmenschliche Beziehungen sind, die uns lebendig und damit im weitesten Sinne kreativ halten.

Zitierweise:
Charlotte Gutscher: Rezension zu: Kunstmuseum Thun (Hrsg.): Der Kontinent Morgenthaler. Eine Künstlerfamilie und ihr Freundeskreis. Zürich: Scheidegger und Spiess 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 2, 2017, S. 91-93.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 2, 2017, S. 91-93.

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